Kleine Luegen erhalten die Liebe
die Partner wechselte, bei der man sich darauf verlassen konnte, dass sie mit Geschichten von Orgien im Drogenrausch mit neunzehnjährigen Models, von Dreiern, Wochenend-Love-ins mit Millionären und gegenseitigem Rasieren mit einem neuseeländischen Art-Director heimkam. Und bei keinem von all diesen Männern hatte sie einen Orgasmus gehabt?
Dieser letzte Gedanke setzt sich prompt in Worte um. »Dann hat dich also noch keiner von all diesen Typen, mit denen du zusammen warst, dazu gebracht zu kommen, Spanner?«
Wieder zuckt Anna mit den Schultern und steckt sich eine Olive in den Mund. »Wie ich schon sagte: nur ich selbst. Männer haben doch keine Ahnung. Das Beste ist, sich damit abzufinden, dass es keiner besser kann als man selbst, und sich mit den Kerlen gut zu amüsieren. Sie zu benutzen, um herumzukommen …«
Mia fällt die Kinnlade herunter, und Anna zieht eine Augenbraue hoch, wie um anzudeuten, dass Letzteres nur ein Scherz war, aber das überzeugt Mia nicht.
»Wie dem auch sei«, sagt Melody und schlägt auf den Tisch. »Es bleibt dabei, dass ihr beide einen Orgasmus vorgetäuscht habt, also runter mit dem Wein!«
Beide leeren ihre Gläser, und Melody schenkt nach.
»Ich habe noch was«, meint sie. »Etwas richtig Gutes. Ich hab noch nie … einen anderen als Norm geküsst. Okay, ich will es anders ausdrücken: Ich habe noch nie einen anderen Typen aus unserer Gruppe geküsst – das heißt, weder Fraser noch Si oder Andy.« (Die Mitglieder der Fans gehören immer noch zur Clique, obwohl sie heute alle in London leben, verheiratet sind und nur noch bei Hochzeiten und Taufen gesehen werden.)
Eine lange Pause folgt. Mia schüttelt den Kopf und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Ich auch nicht«, sagt Anna schließlich.
»Niemals«, bekräftigt Mia und spürt, wie ihr heiß wird. »Oder höchstens, als ich unter Hypnose stand, doch das zählt nicht.«
»Nein, das zählt nicht«, stimmt Melody ihr zu. »Wie langweilig!«
Aber Mia spürt Annas Blick auf sich.
»Was?«
»Nichts«, antwortet Anna. »Schau mich nicht an!«
»Das war’s dann also schon?«, sagt Melody mit leicht enttäuschter Miene. »Keine hat ein paar saftige Geständnisse? Keine schlüpfrigen Geheimnisse, die sie mit uns teilen möchte …?«
Wieder folgt eine Pause. Mia wird bewusst, dass die Atmosphäre etwas frostiger geworden ist, und lacht nervös. Vielleicht ist sie ja nur paranoid? Sie braucht noch ein paar Drinks. Der Anruf von Eduardo hat sie total nervös gemacht, und das Einzige, was dagegen hilft, ist, sich einen anzutrinken.
»Vielleicht sollten wir dann jetzt zu Harry’s Bar gehen?«, schlägt sie schließlich vor. Aber der geplante Barbesuch fühlt sich schon ein bisschen wie Silvester an – voller Druck, Erwartung und dem unausgesprochenen Wissen, dass er nach dem Wahrscheinlichkeitsprinzip ihre Erwartungen nicht erfüllen wird. Was Mias Anspannung nur noch erhöht.
♥
Harry’s Bar ist wirklich nicht das, was sie erwartet hatte, muss Mia zugeben. Sie weiß nicht, was sie eigentlich erwartet hatte – den Internetbildern nach vielleicht mehr eine ArtJazz-Bar, schmuddeliger, lauter und verqualmter, doch so ist dieses Lokal nicht. Es ist klein und ziemlich nichtssagend, mit einem Hauch von Kreuzfahrtschiff-Ambiente mit seinen vertäfelten Wänden, dem Marmorboden und den Schwarz-Weiß-Fotos von italienischen Berühmtheiten, die zu Gast in dieser venezianischen Institution gewesen waren. (Mia kennt übrigens keinen von ihnen.) Steife Kellner in elfenbeinfarbenen Dinnerjackets und mit Schleife servieren auf Silbertabletts die berühmten Bellinis den Gästen, die weitgehend Einheimische zu sein scheinen: mondäne Frauen in Grüppchen, Gondolieri nach dem Ende ihrer Schicht, korpulente Männer mit straff zurückgekämmtem weißem Haar. Und alle reden laut und wild gestikulierend, wie es so typisch für Italiener ist und was den Eindruck entstehen lässt, dass sie sich unablässig streiten.
Nach dem Wein und dem etwas verkrampften Spiel »Ich hab noch nie« verkündete Anna, sie wolle eine Kirche suchen, um ein paar Minuten für sich allein zu haben, zu meditieren und an Liv zu denken, und sie werde später nachkommen. Das war Mia ziemlich seltsam vorgekommen, obwohl sie und Melody natürlich sagten, es sei in Ordnung. Sie waren alle immer schon sehr darauf bedacht zu respektieren, wie ihre Freundinnen mit dem tragischen Ereignis umgingen, das sie in ihren Zwanzigern getroffen hatte.
Aber Mia kann
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