Kleine Luegen erhalten die Liebe
wollte ich nur sagen. Eine wirklich tolle Frau.
Noch einmal: Ich bin sehr stolz auf dich, das ist eigentlich schon alles. Wir alle sind es, Mia.
Alles Liebe, Fraser. (Das A von »Alles« war überschrieben, als hätte er ursprünglich mit »In Liebe« schließen wollen.)
Fraser hatte kein x für einen Kuss unter den Brief gesetzt.
Mia biss sich auf den Daumennagel, während sie die Unterschrift anstarrte. Sollte sie ihn anrufen? Sie griff nach ihrem Telefon, aber dann schaute sie auf die Uhr und sah, dass es erst kurz vor halb neun war. Fraser und Karen würden noch unterwegs nach Hause sein. Als Mia sich die beiden im Auto vorstellte, mit offenen Fenstern und lauter Radiomusik auf der M6, überlegte sie es sich anders. Und statt mit ihm zu reden, saß sie da in ihrem Apartment und öffnete die restlichen Karten und Geschenke, bis ein orangefarbenes Leuchten das Zimmer durchflutete und der Himmel sich dann langsam dunkelviolett zu färben begann.
♥
Fraser befindet sich tatsächlich noch auf der M6. Erst kurz hinter Coventry sitzt er in einem gemieteten Vauxhall Astra auf der mittleren Spur im Stau, wackelt nervös mit den Knien und kämpft gegen einen Anfall von Beklemmung an. Es ist heiß, sie sind seit sechzehn Minuten keinen Meter weit vorangekommen, ihm ist übel von dem Tannenduft des Lufterfrischers in dem Wagen, und schon seit Preston muss er zur Toilette.
Und noch etwas trübt sein Vergnügen an dieser eigentlich beschaulichen Fahrt von Lancaster nach London: das Gefühl, dass ein Streit im Anzug ist. Und so ist es schon seit ihrer Abfahrt aus Lancaster.
Fraser war ohnehin schon ziemlich sauer auf Karen, seit sie ihn dazu gebracht hatte, hundertfünfzig Pfund für einen Mietwagen auszugeben, weil sie seinem eigenen (an dem absolut nichts auszusetzen war) die lange Fahrt nach Norden nicht zutraute. Angeblich sei sie »fürs Leben gezeichnet«, nachdem ihre Kupplung auf dem Weg nach Hull einmal versagt hatte. Auch das ist etwas, was Fraser in letzter Zeit auffällt: dass Karens anfängliche unentwegte Heiterkeit einem subtilen neurotischen Kontrollverhalten weicht, mit dem sie ihn irgendwie dazu bringt, Geld auszugeben, das er nicht hat, und schon Monate im Voraus irgendwelchen Plänen zuzustimmen. Wie sich beispielsweise in zwei Monaten Billy Elliot im Theater anzusehen. Er hasst Musicals! Wie konnte er sich also dazu verleiten lassen?
Und jetzt hat sie von anderen, noch beunruhigenderen Dingen zu reden angefangen.
»Dann ist also zwischen dir und Mia nichts gewesen?«
Fraser seufzt und schaut sie an.
»Was guckst du so? Ich bin nicht taktlos. Ich frage nur, mehr nicht. Weil ich es wissen will.«
»Und wie ich bereits sagte, ist nie etwas zwischen uns gewesen.«
Karen blickt aus dem Fenster und schnaubt. »Okay«, meint sie, um bereits im nächsten Atemzug hinzuzufügen: »Was, nicht mal ein Kuss?«
Schon allein dieses Wort löst neuerdings ein komisches Gefühl in Frasers Magen aus. Ein Gefühl, wie wenn man nach einer durchzechten Nacht erwacht und einem langsam dämmert, was man nachts getan hat. So ist es bei Fraser jedes Mal, wenn jemand das Wort »Kuss« gebraucht.
Der Grund dafür ist dieser gotterbärmliche Beinahe-Kuss direkt nach seiner Ankunft bei Melody und Norm. Er weiß nicht, wie es dazu kam – vielleicht haben die Drogen in Vegas etwas in seinem Kopf freigesetzt. Aber es ist, als hätte sich die verdammte Betonplatte verschoben, die ihn seit Livs Tod niederdrückte, die Trauer, derentwegen er an nichts anderes mehr denken konnte als an die tragischen Einzelheiten jener Nacht, und als fiele jetzt plötzlich ein kleiner Sonnenstrahl hindurch – und dieser Sonnenstrahl ist dieser Kuss.
Er öffnet sein Fenster, um frische Luft zu schnappen, und fragt sich, ob ein kleines Geständnis die Anspannung zwischen Karen und ihm nicht vielleicht verringern würde.
»Hör zu! Wenn ich dir etwas erzähle, wirst du dann Ruhe geben? Versprichst du mir, dann nicht mehr davon anzufangen?«
»Okay.«
»Ich habe sie ein Mal geküsst. Aber eigentlich war sie es, die mich küsste, und es war vollkommen bedeutungslos. Es war die Orientierungswoche der Erstsemester, und ein Hypnotiseur kam zur Uni, der Mia in Trance versetzte und sie eine rohe Zwiebel essen ließ. Er sagte ihr, es sei ein Apfel, und sie aß sie, weil sie wirklich völlig willenlos war, weißt du? Sie hattekeine Ahnung, was sie tat. Auf jeden Fall befahl er ihr dann, aufzustehen und irgendjemanden im Publikum zu küssen, und
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