Kleine Sünden erhalten die Liebe
Diesel. »Eine auf ein Stück Papier gekritzelte Adresse in Beacon Hill. Eine Karte. Eine Telefonnummer von Ann.«
»Wenn wir das Sonettenbuch hätten, kämen wir sicher weiter.«
»Nur, wenn wir wüssten, wonach wir suchen müssen. Wulf hat das Buch, aber er scheint auch nicht weiterzukommen. Er hat Hatchet damit beauftragt, den Schlüssel zu stehlen. Ich vermute, dass er den Schlüssel nicht nur dafür braucht, das Buch zu öffnen. Wulf hat es mit Sicherheit bereits ohne den Schlüssel aufgekriegt.«
Ich setzte mich auf Reedys Stuhl und betrachtete seinen Schreibtisch. Am Tag zuvor hatte ich mir bereits alles angesehen, was darauf lag, und alle seine Schubladen durchsucht, aber ich fing noch einmal von vorne an. Ich hatte das Gefühl, dass der Hinweis, falls es ihn gab, irgendwo hier sein musste. Reedy hatte sicher bei seinen Recherchen an seinem Schreibtisch gesessen und sich Notizen gemacht. Unter all den anderen Sachen auf dem Tisch hatte ich ein Buch über das Leben und das Werk von Vincent van Gogh entdeckt. Gestern war es mir nicht wichtig erschienen, nun erinnerte ich mich jedoch daran, wie die Bibliothekarin gesagt hatte, dass der Einband von Loveys Gedichtband Ähnlichkeit mit van Goghs Mandelblüte hätte. Ich blätterte in dem Buch und fand eine Abbildung des Gemäldes. Öl auf Leinwand. Zweige und Blüten vor einem blauen Himmel. Fertiggestellt 1890. Es befand sich im Besitz des Van Gogh Museums in Amsterdam, aber zurzeit war es Teil einer Wanderausstellung.
Die Seite war mit einem Computerausdruck eingemerkt, der auf den ersten Blick dasselbe Gemälde darzustellen schien, aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man einige kleine Unterschiede. Jemand hatte die Abweichungen eingekreist und an den Rand das Wort Privatkollektion und eine Adresse am Louisburg Square gekritzelt.
»Ich glaube, ich habe etwas entdeckt«, sagte ich zu Diesel. »Komm her, und schau dir das an. Die Bibliothekarin sagte, der Einband des Lovey-Buchs erinnere sie an ein Gemälde von van Gogh mit Mandelblüten. Ich habe dieses Kunstbuch auf Reedys Schreibtisch gefunden und darin zwei Bilder mit Mandelblüten entdeckt, die ähnlich, aber doch verschieden sind. Eines gehört einem Museum, und das andere scheint sich in einer Privatkollektion zu befinden. Hier steht eine Adresse am Louisburg Square, und Julie sagte, Reedy sei wegen des zweiten Hinweises zum Louisburg Square gefahren.«
Diesel warf einen Blick über meine Schulter und zauste mir das Haar. »Gut gemacht, Sherlock.«
Die Straßen im vornehmen Beacon Hill sind schmal, werden von Gaslaternen beleuchtet und führen meist nur in eine Richtung. Wenn man mit dem Auto unterwegs ist, ist es daher praktisch unmöglich, auf direktem Weg von A nach B zu gelangen. Die Gehsteige sind ausgetreten und von Baumwurzeln überwuchert. Die meisten Reihenhäuser sind im Federal Style erbaut. Dazwischen taucht hin und wieder zur Abwechslung ein Haus in neoklassischem Stil auf. Und mittendurch führt die Charles Street mit ihren Antiquitätenläden, Restaurants, Boutiquen, Cafés, Bäckereien und Gemüseläden. Zwei Blocks hügelaufwärts liegt der Louisburg Square. Der kleine Park ist eine grüne Oase, umgeben von einem schwarzen schmiedeeisernen Zaun und einigen Bäumen. Die Backsteinbauten um den Platz herum haben schwarze Fensterläden und üblicherweise vier Stockwerke sowie ein Souterraingeschoss, das auf einen winzigen Garten hinausführt. Das sind Bostons Luxusimmobilien, die Preise von mehreren Millionen erzielen. Ich war auf einer meiner Besichtigungstouren früher schon die Charles Street entlanggeschlendert und den Hügel bis zum Massachusetts State House hinaufgestiegen, also war mir die Umgebung einigermaßen vertraut.
Diesel bog auf den Louisburg Square ab. Er zählte die Hausnummern ab und blieb vor einer der perfekt renovierten Stadtvillen stehen.
»Das ist die Adresse auf dem Computerausdruck«, erklärte er. »Meine Assistentin hat mir soeben eine SMS geschickt. Demzufolge gehört das Haus Gerald Belker. Er ist Geschäftsführer der Firma Belker Extrusion, verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Das ist eines von drei Häusern, die ihm gehören. Es ist nicht sicher, ob er im Augenblick dort wohnt. Reedy wurde in das Haus gelassen und durfte sich das Gemälde anschauen, aber das liegt bereits ein paar Wochen zurück. Meine Assistentin hat bei ihrem Anruf nur den Anrufbeantworter erreicht.«
»Wie heißt deine Assistentin?«, wollte ich wissen.
»Ich habe keine
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