Kleine Suenden zum Dessert
wunderbarer Mensch sie gewesen war.
Einen Moment lang war Julia überwältigt. Ihre Zeit war gekommen. Sie würde sterben.
»Mammy! Hörst du mich? Mammy, ich bin‘s - Michael!« Natürlich konnte er sie nicht in Frieden sterben lassen! So war er schon als Kind gewesen. Immer forderte er ihre Aufmerksamkeit, immer bettelte er »Schau doch, was ich kann!«. Und wenn sie dann schaute, dann machte er gar nichts. Er hatte wieder nur erreichen wollen, dass sie ihn ansah. Komischer, kleiner Michael.
»Mammy?« Dann sagte er: »Versuch du‘s mal, Gillian.« Stuhlbeine scharrten über den Boden, und dann klimperte laut ein Armband an Julias Ohr, und ein Finger bohrte sich in ihren Oberarm. Oh, es war zum Verrücktwerden! Niemand könnte unter solchen Umständen sterben.
»Julia? Hier ist Gillian.« Erwartungsvolles Schweigen. Julia achtete darauf, sich ja nicht zu bewegen. »Julia! Wir fahren jetzt zum Tee nach Hause, aber morgen früh kommen wir wieder, okay?«
Zum Tee? Sie würde wohl kaum sterben, wenn ihre Familie heimführe, um sich in aller Ruhe mit Sandwiches voll zu stopfen. Wahrscheinlich war ihr Zustand nicht einmal kritisch.
Zwei Schlappen an einem Tag. Niedergeschlagen lag sie mit fest geschlossenen Augen regungslos da und registrierte die Geräusche des Aufbruchs: das Schnappen von Gillians Handtaschenverschluss, das Sirren von Susans Reißverschluss, das Klimpern von Autoschlüsseln. »Susan, verabschiede dich von deiner Großmutter.«
»Sie kann mich doch gar nicht hören, Dad.«
»Trotzdem wäre es eine nette Geste.« Julia war beinahe gerührt, doch dann stimmte Gillian mit ein: »Ich habe in einem meiner medizinischen Bücher gelesen, dass viele Komapatienten auf die Stimmen ihrer Angehörigen reagieren. Stellt euch das vor!«
»Tatsächlich.« Michael klang ungeduldig. Kein Wunder nach fünfzehn Jahren Ehe mit dieser Hypochonderin.
»Es gibt da eine Fallstudie über einen Mann, der zwölf Jahre im Koma lag - vegetierte dahin, der Arme -, und genau an dem Tag, als die lebenserhaltende Maschine abgeschaltet werden sollte, hörte er die Stimme seines Enkels, und da erwachte er plötzlich und sagte das Alphabet auf.«
»Ich will mich von ihr verabschieden«, quengelte Susan auf einmal.
Wie gern wäre Julia aufgesprungen und hätte den dreien einen gehörigen Schrecken eingejagt! Aber unglücklicherweise hatte sie nicht die Kraft dazu und war gezwungen, hilflos dazuliegen, als Susan sich über ihr Ohr beugte. »Granny? Ich bin‘s - Susan.« Pause. »Deine Enkelin.« Dann, mürrisch: »Sie hat nichts getan.«
»Dann versuchst du‘s eben morgen früh noch mal«, sagte Gillian besänftigend.
Einen Moment lang war es ganz still im Zimmer, und Julia dachte schon, sie seien gegangen.
Doch dann: »Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen, Michael.«
»Ich weiß.«
»Ich meine ... es musste ein Notarztwagen kommen, um Himmels willen!«
»Ich weiß.«
»Dafür werden wir wahrscheinlich eine Rechnung kriegen.«
»Das interessiert mich nicht. Ich hoffe nur, dass die Frau vor Gericht gestellt wird, die sie angeschossen hat.«
»Es war ein Unfall, Michael - und er wäre nicht passiert, wenn deine Mutter nicht durchgedreht und mit einem Gewehr herumgefuchtelt hätte.«
»Bitte sprich nicht in diesem Ton über sie.«
»Ich wollte das nur klarstellen. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.«
Dann waren sie weg, und Julia bedauerte es beinahe. Was hatte ihre Schwiegertochter wohl damit gemeint, dass sie sich etwas einfallen lassen müssten? Bevor sie sich ernsthaft den Kopf darüber zerbrechen konnte, driftete sie in Sphären ab, die weder angenehm noch unangenehm waren.
Rachel, ich mach jetzt Pause. Die beiden Akten sind für Dr. Ryan. Soll ich dir einen Schokoladenmuffin mitbringen?
Julia kehrte nur sehr widerwillig in die Realität zurück. Sie hatte von JJ geträumt. Er hielt ein etwa halbjähriges Kind in den Armen - Michael - und schaute voller Liebe und Stolz darauf hinunter.
Sie versuchte, JJs geliebtes Gesicht festzuhalten, doch es verschwamm und verzerrte sich. Und warum trug er plötzlich Lippenstift?
»Na, da sind Sie ja wieder.« Eine Schwester beugte sich über sie. Sie hatte Schokoladenkrümel auf ihrem Kittel.
»War meine Familie da?«, erkundigte sich Julia, um sicherzugehen, dass sie das nicht auch geträumt hatte.
»Und ob! Alle sehr besorgt um Sie«, sagte die Schwester. »Er sieht Ihnen sehr ähnlich, nicht wahr? Ihr Sohn, meine ich.«
Julia war verblüfft.
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