Kleiner Kummer Großer Kummer
Temperaments herauskommen. Jede Patientin legte hier andere Gesichtspunkte zugrunde, als wenn es um den praktischen Arzt ging. Wie ein Kollege von mir einmal sagte: »Die Weinerlichen schicke ich immer zu Dr. Soundso«, womit er das ganze Problem erfaßt hatte.
Von den Männern, die ich für Sylvias Betreuung in Betracht zog, war einer ein Ire, der sein Metier ausgezeichnet verstand, aber er war geradeheraus und würde eine Patientin niemals verhätscheln; der zweite war ein sanfter junger Mann, der mir in seinen Briefen bis ins kleinste über jede Spritze und jeden Ätherrausch, den er verabfolgen mußte, berichtete - seine Patientinnen beteten ihn an; der dritte war ein jagender, schießender, fischender Edelmann in den Sechzigern, der einmal bei uns gewesen war, als ich ihn zu einer Untersuchung hinzuzog. Während ich noch beim Essen war,
saß er neben mir und schrieb sich einige Notizen über die Kranke auf. Unglücklicherweise hatte er nicht erst ein Buch oder eine Zeitung unter das Blatt Papier gelegt, auf dem er schrieb, so daß noch immer die Feststellung »Miss Baker ist Jungfrau« in seiner flüssigen Handschrift auf der polierten Platte unseres Eßzimmertisches eingegraben steht.
Da ich größtes Zutrauen zu dem Können eines jeden dieser Männer hatte, beschloß ich, die letzte Wahl Sylvia zu überlassen. Es dauerte nicht lange, bis sie zu einem Entschluß kam. Sie hätte es gern, verhätschelt zu werden, meinte sie, aber nicht von einem alten Mann. Wir gingen also zusammen zu Mr. Humphrey Mallow.
Nachdem wir von einer Sympathie ausstrahlenden, knusprigen, weißgekleideten Empfangsdame an eine andere Sympathie ausstrahlende knusprige, weißgekleidete Empfangsdame weitergereicht waren, wurden wir endlich in das weiträumige, hohe Heiligtum des Mr. Mallow geführt, der uns bis zur Tür entgegenkam, Sylvia wie ein Stück kostbaren alten Porzellans zu einem Stuhl geleitete, mir kurz zunickte und sich wieder hinter seinen Tisch setzte.
»Nun«, begann er mit der Feder in der Hand, während seine braunen Augen voller Mitgefühl auf Sylvia ruhten, »wie ist Ihr voller Name?«
Es war kein Wunder, daß sie unter seinem Charme wie die Kegel umfielen. Während er ein Herz-zu-Herz-Gespräch mit Sylvia führte, hatte ich genügend Zeit zur Besichtigung des wunderschönen Raumes, seiner Bücher und Blumen, der Fotografie seiner Frau und der Ölgemälde seiner Kinder. Als sie fertig waren, war es mir klar, daß sie, genau wie die anderen Patientinnen, die ich zu ihm geschickt hatte, auf ewig seine Sklavin sein würde. Er schickte sie mit der Schwester, die er durch eine diskrete Glocke herbeigerufen hatte, in den Untersuchungsraum, und dann, wirklich erst dann, wandte er sich zu mir.
Als ihm die Schwester meldete, daß Sylvia fertig zur Untersuchung sei, entschuldigte er sich und schwebte hinaus. Ich benutzte die Gelegenheit, hinter seinen großen Tisch zu schlüpfen, um zu sehen, welche Notizen er sich über Sylvia gemacht hatte. Er hatte in seiner detaillierten und präzisen Art eine ganze Seite voll geschrieben. Am Schluß hatte er mit großen Buchstaben verzeichnet: JUNGE. Es war ein alter Kniff der Gynäkologen. Sie schreiben in ihren Notizen groß und klar Junge, und dann erzählen sie der Patientin kategorisch, daß sie ein Mädchen bekommen wird. Wenn nun ein Mädchen geboren wird, ist alles in Ordnung; die Patientin ist von der zutreffenden Diagnose sehr beeindruckt; wenn ein Junge ankommt, vergißt er vollkommen, was er der Patientin erzählt hat, und zeigt ihr stolz seine Notiz, die unverkennbar am Tage ihres ersten Besuchs gemacht wurde. Es war ein ganz einfacher Kniff, verlieren konnte er dabei nie. Mr. Humphrey Mallow ließ offensichtlich keinen Trick aus.
Ich stand noch immer auf der falschen Seite des Tisches, als ich aufblickend die Schwester sah, die lautlos auf dem dicken, weichen Teppich herangekommen war und mich mißbilligend beobachtete. Ich versuchte, nicht wie ein schuldbewußter Schuljunge auszusehen, steckte meine Hände in die Taschen, pfiff ein wenig vor mich hin und betrachtete die Blumen, als sei ich damit beschäftigt, eine Inventur des gesamten Raumes aufzunehmen.
»Mr. Mallow läßt Sie bitten, herüberzukommen und sich Ihre Gattin anzusehen«, säuselte sie.
Ich hätte ihr am liebsten gesagt, daß ich wüßte, wie meine Frau aussieht, aber ich folgte ihren großen weißen Füßen aus dem Raum hinaus.
Sylvia lag, zum Teil unbekleidet, auf dem Untersuchungsbett. Mr. Mallow
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