Kleiner Kummer Großer Kummer
auch ’en Unfall gewesen sein...«
»Die armen Kleinen...«
»Ist er tot?...«
»Es wird einem ganz übel, nicht wahr?...«
»Das erinnert mich an meinen Sydney, als sie den forttrugen.«
Der Milchmann, der noch immer seine zwei Flaschen unter den Arm gepreßt hatte, setzte seinen Weg fort, sein Pfeifen war vergessen, sein Gesicht war traurig. Ich ging zurück in das Haus, um meine Tasche zu holen. Im Schlafzimmer, das nun wieder durch das offene Fenster mit frischer Luft gefüllt war, füllte der Polizeioffizier sein kleines Buch mit sorgfältigen Notizen.
»Verdammte Sache, so etwas zu tun.«
»Es war also kein Unfall?«
Er hob einige Zeitungspapierstreifen auf, die Melrose unter die Tür gesteckt hatte.
»Sieht nicht danach aus.« Wieder schrieb er etwas in sein Buch. »Ich habe selbst ein Kind in dem Alter. Was ist das für ein Mann -dieser Melrose?«
»Ein ganz normaler Mensch«, erwiderte ich. »Seine Frau war gestorben. Vielleicht wurde ihm das Leben zuviel.«
»Vielleicht. Aber daß er auch die Kleinen mitgenommen hat...«
Es gab nichts mehr für mich zu tun. Ich ließ ihn mit seinen Messungen und Notizen allein und ging, um meine Besuchsrunde fortzusetzen, aber es war schwer, aus meinen Gedanken das Bild von Mr. Melrose und seinen beiden kleinen Mädchen zu verbannen, die schweigend auf dem großen Bett lagen.
Der Tag ging scheußlich weiter. Bei dem alten Mann, dessen Frau gedacht hatte, daß er außerordentlich krank sei, stellte ich eine Lungenentzündung fest; Mrs. Douthwaite hatte einen plötzlichen Bluthusten, und ich mußte über eine halbe Stunde am Telefon hängen, um ein Krankenhausbett für sie zu bekommen. Um fünf Uhr bekam ich die Nachricht, daß die beiden kleinen Melrose-Mädchen tot seien, daß Melrose selbst aber vielleicht durchkommen würde. Wenn ich mir überlegte, welche Zukunft der arme Mann jetzt vor sich hätte, empfand ich keine Genugtuung darüber, daß ich wahrscheinlich sein Leben gerettet hatte.
Ohne einen einzigen Augenblick zur Besinnung gekommen zu sein, begann ich die Abendsprechstunde. Eine Stunde nach meiner normalen Schlußzeit gab ich das Summerzeichen für den letzten Patienten. Es war Bob Flower. Bei seinem Anblick legte ich schuldbewußt meine Hand auf die langen Haare, die sich meinen Nacken hinunterkräuselten.
»Hallo, Bob«, grüßte ich. »Ich hätte diese Woche zum Haarschneiden kommen sollen, aber ich hatte nicht einen Augenblick Zeit.«
»Ich weiß«, erklärte Bob. »Ich traf Ihre Gattin heute mittag in der Hohestraße.«
»Setzen Sie sich«, bat ich, indem ich das Datum auf einen Rezeptzettel stempelte - meistens brauchte Bob ein neues Rezept für seine Asthmatabletten -, »und erzählen Sie mir, was Ihnen fehlt.«
Er blieb stehen. »Nichts«, sagte er und zog aus den Tiefen seiner Taschen einen Kamm und zwei Scheren heraus und legte sie auf meinen Tisch.
»Was soll das, um Himmels willen, Bob?«
Er ging hinüber zum Waschbecken und holte ein Handtuch aus dem darunter befindlichen Schränkchen, wo ich, wie er wußte, immer einige frische liegen hatte. Dann kam er wieder zu mir und legte es mir um die Schultern. »Ihr Haar schneiden«, verkündete er und nahm seine Schere und seinen Kamm. »Wenn Mohammed nicht zum Berg kommt...«
Ich setzte mich entspannt zurück. »Nun gut, Bob. Fangen Sie an.«
Es war recht erfreulich, im Sprechzimmer zu sitzen und jemand anderem zuzuhören, der das Sprechen übernahm. Nach diesem hektischen Tag bestand Sylvia, entgegen meiner Absicht, darauf, eine halbe Stunde eher als gewöhnlich ins Bett zu gehen.
»Das paßt mir gar nicht«, knurrte ich, als ich mein Hemd auszog, »denn immer, wenn ich den Entschluß gefaßt habe, früh ins Bett zu gehen, muß ich wieder ’raus. Es ist immer besser zu warten, bis die meisten Patienten zu Bett gegangen sind, dann weiß man, daß sie nicht noch plötzlich entdecken werden, daß der kleine Johnny schwer atmet oder daß sie beim letzten Happen eine Fischgräte verschluckten.«
Sylvia lachte. »Ich bin sicher, daß das heute abend nicht passiert«, sagte sie. »Es scheint doch nichts mehr übriggeblieben zu sein.«
Aber es gab doch noch etwas. Gerade hatte ich das Licht ausgeschaltet, die Vorhänge aufgezogen, das Fenster geöffnet, war über den Papierkorb gestolpert und steckte mit einem Bein unter der Bettdecke, da klingelte das Telefon. Als ich die Nachricht entgegengenommen hatte, zog ich mein Bein wieder aus dem Bett, gab dem Papierkorb einen zweiten Tritt,
Weitere Kostenlose Bücher