Kleiner Kummer Großer Kummer
schloß das Fenster, zog den Vorhang zu, schaltete das Licht an und ergriff meinen Nachtruf-Pullover. »Ich muß daran denken, eine Birne in die Nachttischlampe zu drehen«, rief ich Sylvia zu, aber sie hatte ihren Kopf vor Scham unter der Bettdecke versteckt, »’s wird nicht lange dauern«, fuhr ich fort, indem ich den Hügel tätschelte, den sie unter der Decke machte; »schlaf nicht ein.«
Als ich eine halbe Stunde später zurückkam, saß Sylvia aufrecht im Bett und las eine medizinische Zeitschrift.
»War es nötig?«
»Es kommt darauf an, was du meinst«, antwortete ich, während ich mich zum zweitenmal auszog. »Es war Mr. Daly; du weißt, der Bursche mit der großen, dicken Frau, die hier immer mit diesem Einkaufskorb auf Rädern vorbeigeht. Er kam, munter wie ein Fisch, aus dem Büro-, ging hinauf, um sich auszuziehen, und bekam noch auf dem Flur einen Kollaps. Er war schon tot, als ich ankam. Erst fünfundvierzig.«
»Oh! Nein!« Sylvia legte die Zeitschrift nieder. »Wie schrecklich. Was fehlte ihm denn?«
»Wahrscheinlich Herzinfarkt. Das ist ja auch egal, nicht wahr? Gibt morgen früh wieder Arbeit.«
Nachdem ich das Licht ausgedreht hatte und ins Bett gegangen war, streckte ich meine Arme nach Sylvia aus. Ihr Gesicht war naß von Tränen.
»Was ist denn, Liebling?«
»Es ist alles so traurig«, schluchzte sie. »Diese arme Mrs. Daly! In der einen Minute hat sie noch einen Mann, und in der nächsten Minute ist sie allein. An einem Tag trottet sie noch glücklich mit diesem lächerlichen Korbding dahin, und am nächsten Tag weint sie um ihren Mann.«
»Das ist das Leben«, sagte ich. »Wir können nicht ewig leben.«
»Nicht ewig, aber er war doch erst fünfundvierzig. Ich hätte mir nie vorgestellt, daß das Leben so ist, bevor ich dich heiratete. Als ich als Mannequin arbeitete, pflegten wir an nichts anderes als an Kleider zu denken; wir machten uns niemals Gedanken darüber, was unter ihnen vor sich ging. Es erinnert mich an ein Ballspiel aus meiner Kinderzeit. Man hatte drei Chancen. Wenn man das erste Mal getroffen wurde, war man krank, beim zweiten Mal sterbend, beim dritten Mal tot. Mr. Daly hatte nicht einmal die beiden ersten Chancen gehabt. Bist du denn nicht ganz erledigt, Liebster?«
»Eigentlich müßte ich es sein«, gab ich zu, indem ich ihre Tränen mit meinem Taschentuch trocknete, »aber ich kann nicht über jeden Mann, jede Frau und jedes Kind weinen. Es ist nicht so, daß ich mir keine Gedanken darüber mache, aber ich glaube, daß es einen Grund für alles gibt. Es muß einfach so sein.«
11
Als ich am Morgen der Party vor meinem Rasierspiegel stand, entdeckte ich mit einem leichten Schreck, daß ich langsam begann, wie ein typischer Kassenarzt auszusehen. Sicher war es das erste Mal seit vielen Monaten, daß ich mein Gesicht einmal eingehend betrachtete. Meist machte ich nur die üblichen Rasiergrimassen, um eine möglichst große Fläche meines Bartes erreichen zu können, und hatte also immer nur einen kleinen Teil meines Selbst vor Augen. Ich bemerkte an mir, was man ein wohlwollendes, verheiratetes Aussehen nennen könnte; die wohlsituierte Erscheinung eines Mannes mit Familie.
Ich dachte darüber nach, ob die Patienten das wohl schon bemerkt hatten, und kam zu der Überzeugung, daß das sicherlich der Fall war. Zum mindesten kamen meine weiblichen Patienten, seit ich verheiratet war, mit Problemen zu mir, mit denen sie vorher lieber zu einem älteren Kollegen mit Frau und Familie gegangen waren als zu einem Junggesellen. Nachdem sich jetzt das Bild gewandelt hatte, hatte ich Verständnis für die frühere Zurückhaltung der Frauen, ihre persönlichen Probleme vor mir auszubreiten, die ich damals noch gar nicht hätte begreifen können. Inzwischen hatte ich meine eigenen Erfahrungen gesammelt und selbst allerlei Haushaltsorgen kennengelernt, mit denen sich die Frauen täglich herumschlagen mußten. Jetzt begann ich auch die Plagen und die Beschwernisse der Schwangerschaft zu begreifen, nachdem meine früheren Erfahrungen sich nur auf das rein medizinische Gebiet erstreckten. Ich glaube, als richtiger Hausarzt würde ich erst anerkannt werden, wenn ich meine eigenen Kinder haben würde.
Das Wartezimmer war wieder restlos voll, und am Ende meiner Besucherliste fand ich eine Adresse, die ich nicht entziffern konnte. Es war »3« oder so ähnlich, aber den Namen der Straße konnte ich nicht lesen. Da es Sylvias Handschrift war, ging ich zu ihr in die Küche,
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