Kleiner Kummer Großer Kummer
klar, daß ich nun Erfahrungen aus erster Hand über das sammeln konnte, was ich bisher nur in meiner Sprechstunde zu hören bekam. »Meine Frau ist unmöglich, Doktor«, erzählten mir die zukünftigen Väter. »Sie regt sich über alles auf und läßt beim kleinsten Widerspruch gleich die Tränen fließen. Ist das normal?«
»Vollkommen«, erklärte ich leichtfertig. »Sie müssen verstehen, daß Frauen in diesem Zustand aus der normalen Bahn geworfen sind. Sie müssen jetzt besonders geduldig und besonders nett zu ihr sein, und versuchen Sie, sie nicht aufzuregen.«
»Du wirst dir die Zeit nehmen, nicht wahr, Süßer?« bat Sylvia, und ich fühlte, wie die glatten Worte, mit denen ich meine Patienten in solchen Fällen beruhigt hatte, jetzt auf mich zurückplätscherten. »Es liegt an ihrem Zustand«, redete ich mir selbst zu, »und du mußt jetzt ganz besonders nett sein.« Ich war so in Eile, daß ich wirklich nicht wußte, wie ich es fertigbringen sollte, heute am Nachmittag eine Stunde fürs Haarschneiden herauszusparen.
»Ich werde es versuchen«, sagte ich zu und war froh, daß sich ihr Gesicht aufhellte. »Ich werde es wirklich versuchen.«
Iris steckte ihren Kopf in das Zimmer.
»Doktor«, mahnte sie, »es ist fast zehn Minuten nach neun, und das Wartezimmer ist bumsvoll. Ich glaube, Sie fangen jetzt besser an. Es stehen schon sechs Besuche auf der Liste, Sie werden niemals durchkommen.«
Ich grinste Sylvia an. Wenn ich mein Versprechen nicht halten konnte, Iris war mein Zeuge. Seit ich sie von Edinburgh mitgebracht hatte, hatte sie uns allen Ärger über Bridget und Emily vergessen lassen; sie war doppelt soviel wert, wie wir ihr bezahlten.
Stets war sie fröhlich und ging unerschrocken an jede Arbeit heran, an Haus und Praxis hatte sie ein persönliches Interesse. Ihre Fehler waren zu ertragen. Sie neigte dazu, uns zu bemuttern, zu den sonderbarsten Zeiten kam sie ohne Anklopfen ins Schlafzimmer, gab fröhlich unerwünschte Ratschläge, wenn Sylvia und ich in ihrer Hörweite über irgend etwas diskutierten, und stellte lieber selbst die Diagnose und verordnete den Patienten etwas, als daß sie mich gestört hätte. Ich sagte ihr immer wieder, daß sie keine Ratschläge nach ihrer eigenen Meinung geben dürfe, aber sie verteidigte sich lächelnd: »Ich würde im Traum nicht daran denken, Sie mit all den Dingen zu belästigen, die sie am Telefon haben wollen.« Ich hatte einmal zugehört, wie sie Porridge für einen verschluckten Penny empfahl, heiße Milch mit Whisky für eine Erkältung und einen Umschlag aus eingeweichtem Brot für etwas, das sich später als Mumps herausstellte. Sie war der Überzeugung, daß ich meine Besuche auf die Hälfte reduzieren könnte, wenn ich sie gewähren ließe.
Für Sylvia war sie unentbehrlich. Den ganzen Tag tanzte sie um sie herum, um etwas Schweres für sie aufzuheben oder darauf zu bestehen, daß sie die Füße hochlegte. Für all das vergab Sylvia ihr die Mitbenutzung ihres Nagellacks und die Tatsache, daß Iris, wenn sie allein war, jedes Stück aus ihrem Kleiderschrank anprobierte und nicht allzu sorgfältig zurückhängte. Wir hatten sie beide liebgewonnen und hofften nur, daß ihr unruhiges Sitzleder sich noch etwas geduldete. Bei irgendeiner Gelegenheit hatte sie versprochen zu bleiben, bis das Baby geboren war.
Ich hatte Sylvia mit meinem Zeitmangel, der den Haarschnitt verhinderte, nicht täuschen wollen, die Praxis zeigte, daß ich mich wirklich ’ranhalten mußte, da ich plötzlich eine Menge ernstlich kranker Patienten zu verarzten hatte. Es war schwer, mich zu entschließen, welchen Besuch ich zuerst erledigen sollte. Ich schwankte zwischen einem kleinen Kind mit heftigen Leibschmerzen und einem alten Mann, dessen Frau mich gerufen hatte, weil er ihr außerordentlich krank vorkam. Ich entschloß mich, zuerst das Kind anzusehen.
Als ich gerade wieder von dem Haus fortfuhr, nachdem ich dem Kind etwas verschrieben und der Mutter versichert hatte, daß keine akute Gefahr bestände, hörte ich eine Fahrradglocke im Näherkommen eifrig klingeln. Im Rückspiegel erblickte ich ein rothaariges Mädchen, das wild in die Pedale trat und mit einem Arm in der Luft herumwedelte. Ich stoppte und steckte meinen Kopf aus dem Fenster, als Iris bei mir ankam. Ihr Rock war über die Knie hochgerutscht, sie war außer Atem, und ihr Gesicht war fast so rot wie ihre Haare.
»Gott sei Dank, daß ich Sie erwischt habe«, keuchte sie, nach Atem ringend. »Ich dachte
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