Kleiner Kummer Großer Kummer
die tollsten Anschuldigungen gegen mich erheben und ich noch auf dem Gericht landen würde.
Ich. hatte etwa fünfzehn Patienten behandelt, als eine junge Frau mit Röhrenhose und Sonnenbrille und einem fest um den Kopf gebundenen Schal hereinkam. Nachdem sie sich auf den Stuhl mir gegenüber gesetzt hatte, nahm sie die Sonnenbrille ab, die fast ihr ganzes Gesicht verdunkelte, und entfernte das Kopftuch. Ihr blondes Haar fiel auf ihre Schultern.
»Tessa!« erschrak ich. »Tessa Brindley. Was machen Sie hier?«
Was ich wirklich meinte, war: »Was machen Sie hier in diesem komischen Aufzug?« Sie war schließlich meine Patientin und hatte das volle Recht, mich zu konsultieren.
Sie lächelte. »Ach! die Verkleidung«, lächelte sie. »Ich wollte auf keinen Fall, daß mich jemand hier sieht, damit es Daddy nicht erfährt.«
»Was war denn letzte Nacht los? Ihr Vater rief mich an. Er machte sich Sorgen, weil Sie nicht direkt heimgegangen sind.«
»Ja, das tut mir leid. Es ist eine ziemlich lange Geschichte, aber ich werde sie Ihnen erzählen, damit Sie das von gestern abend verstehen. Ich schulde Ihrer Gattin eine Erklärung, daß ich gestern so davongelaufen bin.«
»Ich stehe zu Ihrer Verfügung.«
Sie sah auf das kirschrote Kopftuch und die dunkle Brille auf ihrem Schoß, dann wandte sie ihren Kopf zu mir.
»Ich bekomme ein Baby«, sagte sie.
Da saß ich, mit meiner beruflichen Gemütsruhe gewappnet, die es mir erlaubte, weder Überraschung noch Mißfallen zu zeigen, und dachte voller Mitleid an H. H. Brindley, der einem gefallenen Idol ins Auge sehen mußte.
»Sind Sie sicher, Tessa?«
»Es sind jetzt drei Monate. Niemand weiß es natürlich, außer mir und...«
»... dem Vater?«
Sie nickte.
»Wissen Ihre Eltern etwas von ihm?«
»Von Tony? Nein. Daddy hätte das nicht gebilligt«, sagte sie bitter. »Er ist nicht reich; er ist ruhig, ernst; was Daddy >sehr ordinär< nennen würde. Er ist Journalist.«
»Wissen Sie, Tessa«, erklärte ich, »ich glaube, Sie sehen Ihren Vater falsch. Er liebt Sie sehr, und Sie sind seine einzige Tochter. Er würde alles dafür geben, um Sie mit dem richtigen Mann verheiratet zu sehen. Ich bin ganz sicher, daß die Tatsache, daß er kein Geld hat, überhaupt nichts ausmachen wird. Sie lieben ihn doch?!«
»Ja, ich liebe Tony«, wiederholte sie.
»Nun, da scheint es nichts anderes zu geben, als daß Sie Tony mit nach Hause nehmen, Ihrem Vater alles erzählen und ihn bitten, daß er Sie heiraten läßt. Ich bin sicher, daß er Sie genug liebt, um über den Schock wegen des Babys hinwegzukommen.«
Tessa blickte mich an. »Ich fürchte, so einfach ist es nicht. Wissen Sie, Tony ist schon verheiratet.«
Für einen Augenblick wußte ich nichts zu sagen. Das arme Mädchen hatte sich anscheinend einen ganzen Packen Sorgen aufgebürdet.
»Bitte machen Sie sich keine Sorgen wegen Daddy. Ich weiß, daß ich das selbst in Ordnung bringen muß. Ich kam, um Sie zu fragen, was mit dem Baby geschehen soll.«
»Sie meinen...«
Sie schüttelte ihren Kopf. »Nein, das nicht. Ich wollte nur wissen, wo ich es bekommen kann. Irgendwo, wo es ruhig ist, nicht so viel Menschen.«
Tessa war ein sehr tapferes Mädchen. Ich untersuchte sie, um die Bestätigung wegen des Babys zu erhalten, und fand, daß es genauso war, wie sie es angegeben hatte.
»Was hat Tony dazu gesagt?« fragte ich sie.
»Ich habe es ihm erst gestern abend gesagt. Nachdem ich hier fortging, habe ich mich mit ihm getroffen. Wir haben bis halb drei Uhr zusammen im Wagen gesessen und darüber gesprochen. Er liebt seine Frau nicht, aber er hat zwei kleine Kinder, die noch zur Schule gehen. Es ist ja nicht so, daß ich dachte, er würde mich jemals heiraten. Die ganze Zeit wußte ich, daß das nicht möglich war. Aber ich glaubte, ich müsse ihm das von dem Baby sagen. Und als er es wußte, wollte er, daß ich es mir nehmen lasse. Er sagte, er könne genug Geld dafür auftreiben, und ich brauche es nicht einmal Daddy zu erzählen. Er konnte nicht verstehen, warum ich nicht einwilligen wollte. Ich glaube«, fügte sie hinzu, »er liebt mich nicht so sehr, wie ich ihn liebe.«
»Sehen Sie, Tessa«, redete ich ihr zu, »was das Baby anbetrifft: ich glaube, es wäre das beste, wenn Sie es erst einmal Ihren Eltern erzählten, bevor wir irgend etwas verabreden.« Ich überlegte mir dabei, daß ihr Aufenthalt während der Geburt sich wohl danach richten müßte, ob H. H. Brindley so dumm sein und sie hinauswerfen würde, oder
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