Kleiner Kummer Großer Kummer
Entsetzen in den Augen.
»Doktor!« begann sie, bevor ich Gelegenheit hatte, etwas zu sagen. »Ich wollte nach dem Baby sehen, als Sid zur Arbeit gegangen war, und da liegt es da und bewegt sich nicht und atmet nicht. Ich glaube, es ist tot.«
Sie lief die Treppe hinauf und ich folgte ihr.
Das achtzehn Monate alte Baby war tot.
»Es tut mir leid«, sagte ich ungeschickt. »War es gestern abend noch in Ordnung?«
»Er hatte ein wenig Schnupfen, aber sonst fühlte er sich ganz wohl.«
»Wir werden morgen bei der Leichenschau feststellen müssen, wie es geschehen ist. Ich vermute, daß er an einer plötzlichen bösartigen Art von Lungenentzündung gestorben ist. So etwas passiert manchmal in dieser schnellen Art.«
»Aber ich kann es nicht glauben.« Sie streichelte das Kind, als wolle sie es aufwecken. »Was wird Sid sagen? Ich weiß gar nicht, wie ich es ihm beibringen soll.«
Ich ließ sie in der Obhut einer Nachbarin und eilte heim, nachdem ich versprochen hatte, alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen.
»Was war’s?« fragte Sylvia, die darauf bestanden hatte, daß ich wenigstens meinen Kaffee trank, bevor ich mit der Sprechstunde begann.
Ich wollte es ihr gerade erzählen, als ich aufblickte und sie dort stehen sah, schöner als je, aber in einer weicheren, mütterlichen Art, so daß ich meine Absicht änderte, um sie nicht aufzuregen. »Nichts Besonderes«, murmelte ich vor mich hin, »viel Lärm um nichts.«
Sie kam um den Tisch herum und legte ihre Hände auf meine Schultern.
»Du mußt mich nicht anlügen. Abgesehen von allem anderen, bist du ein schlechter Lügner.« Sie hauchte einen Kuß auf meinen Kopf.
»Was war mit dem Padwick-Baby los?«
»Es starb, aus keinem ersichtlichen Grund, mitten in der Nacht!«
»Oh!«
Ihre Hände klammerten sich einen Augenblick fest an meine Schultern, dann fragte sie:
»Wie alt war es?«
»Achtzehn Monate. Eine plötzliche Lungenentzündung, könnte man annehmen. So etwas kommt manchmal vor bei Babys.«
Sie begann den Tisch abzuräumen. »Zum Mittagessen gibt es Hammelkoteletts, so wie du sie am liebsten magst. Versuche, nicht zu spät zu kommen.« Sie strengte sich sichtbar an, aber ihre Stimme war höher als gewöhnlich, und ich merkte, daß ihre Gedanken keineswegs bei den Koteletts, sondern bei dem Padwick-Baby waren.
Ich stand auf, um endlich mit der Sprechstunde anzufangen, nahm sie aber vorher noch für einen Augenblick in die Arme.
»Du mußt nur noch am Telefon ein bißchen kräftiger werden«, sagte ich, »und du wirst eine richtige, voll ausgewachsene, herzlose Arztfrau.«
Meine erste Patientin war ein junges Mädchen mit zotteligem Haar, die mir zwar bekannt vorkam, die ich aber nirgends unterbringen konnte. Ich fragte nach ihrem Namen, aber sie sah nur vor sich nieder und lächelte einfältig.
»Nun, mal los«, drängte ich, »ich habe heute morgen ein volles Wartezimmer; da wollen wir nicht so lange Zeit verlieren. Wie heißen Sie?«
Sie kicherte. »Als wenn Sie das nicht wüßten!«
»Wie bitte?«
»Tun Sie so, als wüßten Sie meinen Namen nicht! Das ist doch nicht nötig. Nicht, wenn wir beide hier allein sind.«
Mir ging ein Licht auf.
»Renée?« fragte ich. »Renée Trotter?«
»Ach! Als ob Sie das nicht wüßten?«
»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind, Miss Trotter, weil ich schon lange einmal mit Ihnen sprechen wollte. Sie müssen aufhören, mir solche Briefe zu schreiben.«
»Warum?« Sie senkte ihre Stimme. »Hat sie es herausgefunden?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete ich ernst. »Aber wenn Sie nicht damit aufhören, bin ich gezwungen, Ihren Namen von meiner Liste zu streichen.«
»Sie werden immer in meinen Träumen sein«, fuhr sie fort, »und ich werde Sie vorbeifahren sehen.«
»Das mag sein. Aber Sie dürfen nicht noch mehr Briefe schreiben. So, und warum sind Sie. nun zu mir in die Sprechstunde gekommen?«
»Ach! Nichts. Ich dachte, Sie würden sich freuen, mich zu sehen.«
»Miss Trotter!« Ich stand auf. »Bitte kommen Sie nicht mehr her, um wegen nichts meine Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich habe es sehr eilig.«
»Dann ist alles aus zwischen uns.«
»Machen Sie sich nicht lächerlich. Guten Morgen.«
»Ich hätte niemals gedacht, daß es so enden würde.«
Ich öffnete ihr die Tür, und als sie an mir vorüberging, warf sie mir einen anklagenden Blick zu. »Das hätte ich wirklich nicht gedacht.«
Ich machte mir eine Notiz, um ihren Namen von meiner Liste zu streichen, bevor sie
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