Kleines Lexikon christlicher Irrtümer - von Abendmahl bis Zungenreden
Afghanistan? Und wie kann man es überhaupt befolgen, ohne durch blinde Universalliebe sich selbst und alle, die sich nicht selbst helfen können, erst recht zu Opfern zu machen?
Eindeutig beantworten lassen sich diese schwierigen Fragen nicht. Menschliches Leben ist auf all seinen Ebenen immer schon und immer wieder von Konflikten, Feindschaften und Gewalt geprägt. Gegen empfundenes Unrecht sich selbst oder der eigenen Gemeinschaft gegenüber tatkräftig vorzugehen, scheint völlig normal zu sein, und von solchen Situationen wird auch in der Bibel immer wieder berichtet. Dabei gibt es schon im Alten Testament unterschiedliche Gebote, die dazu auffordern, den Nächsten – und dazu gehören auch Fremde und Feinde – nicht zu hassen, sondern ihm freundlich und hilfsbereit entgegenzutreten, damit man sich nicht selbst schuldig mache, sondern dem
Gegenüber das eigene Verhalten bewusst werde. An diese Gedanken knüpft Jesus mit seiner Forderung an und spitzt sie auf die Feindesliebe zu. Provokativ lässt er sie ohne weitere Erklärungen stehen und macht dadurch den Kontrast zur alltäglichen Lebenswelt umso deutlicher. Das hat schon früh dazu geführt, dass Ausleger versuchten, die Radikalität der Forderung durch Interpretationen zu mildern. Während die ersten Christen den Kriegsdienst ablehnten und Feindesliebe oft bis in ihren eigenen Märtyrertod übten, meinte schon der Kirchenlehrer Origenes (185 – 254), es könne hier nur darum gehen, den Feind nicht zu hassen. Mittelalterliche Theologen behaupteten, die Forderungen der Bergpredigt seien nur für Geistliche und nicht für das normale Volk bestimmt, und Luther war überzeugt, sie beziehe sich nicht auf das öffentliche, sondern ausschließlich auf das private Leben der einzelnen. Zudem könne den Menschen vor dem Hintergrund des scheinbar unerfüllbaren Anspruchs ihr Angewiesensein auf die Gnade Gottes bewusst werden.
Diese Relativierungen führten schnell dazu, dass die Christen die Feindesliebe nicht mehr sonderlich ernst nahmen und dass sie in ihrem Leben kaum eine Rolle spielte. So konnte der Theologe und Arzt Albert Schweitzer Anfang des 20. Jahrhunderts feststellen, Jesus habe mit dem baldigen Anbruch einer neuen Zeit gerechnet, seine Forderungen seien nie für einen längeren Zeitraum gedacht gewesen und daher auch nicht praktikabel. Dietrich Bonhoeffer dagegen sah in der Bergpredigt nur wenige Jahre später den Aufruf zu einer kompromisslosen Nachfolge Jesu; und auch Mahatma Gandhi und Martin Luther King beriefen sich bei ihren gewaltfreien Aktionen auf die Bergpredigt. Moderne Theologen betonen vor allem den Einspruchscharakter der Bergpredigt gegen Gewalt und Unrecht.
Unzählige Theorien und Ausdeutungen also – Jesus jedoch hat das, was er da forderte, wohl ganz genau so gemeint, wie er es sagte. Er war überzeugt davon, dass das Gottesreich bereits im Kommen sei. Alle sind daher zur Umkehr aufgefordert. Das, was die zukünftige Welt ausmachen wird, kann schon jetzt spürbar
werden, wenn alte Verhaltensmuster überdacht und durchbrochen werden. Schon hier und jetzt kann Solidarität und Gerechtigkeit auch Fremden und Feinden gegenüber geübt werden, schon jetzt kann das Kommende in Gemeinschaft lebendig werden. Dass man seine Feinde lieben und ihnen auch die andere Wange hinhalten soll – wie das aussehen kann, zeigt Jesus in seinem Leiden und Sterben. Noch am Kreuz bittet er Gott um Vergebung für seine Peiniger: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun« (Lukas 23,34).
Aber wie viel Selbstverleugnung und Heuchelei verlangt mir das ab? Geht das überhaupt, einen Feind lieben? Und wollen meine Feinde überhaupt von mir geliebt werden? Es kann hier nicht um Liebe auf Befehl und das Übergehen der vorhandenen Feindschaften und Konflikte zwischen den Menschen gehen; auch nicht darum, die Opfer von Ungerechtigkeit zugunsten der geforderten Liebe zu den Tätern einfach zu übersehen. Es geht nicht um ein bloßes Gefühl universeller Liebe, das in passive Tatenlosigkeit oder Selbsterniedrigung mündet, sondern es geht um konkretes Handeln, um aktive Gewaltfreiheit, um gewaltfreie Provokation. Feindesliebe bedeutet, auch in dem Fremden die Fähigkeit zur Umkehr zu erkennen, auch er ist von Gott erschaffen, mit ähnlichen Wünschen und Bedürfnissen. Wenn ich Fremdheit und Distanz überwinde, kann ich im anderen vielleicht auch mich selbst erkennen. Wer statt der erzwungenen Meile freiwillig auch noch eine zweite mit dem Feind
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