Kleines Lexikon der Reise-Irrtuemer
viel Zeit, Geld, Arbeit und Herzblut in die Erforschung und Pflege des Brauchtums, vom Wissenschaftler bis zum Trachtengruppenleiter. Nur gehören traditionsreiche Tänze und Trachten kaum irgendwo zum Alltag, sodass kurzzeitige Besucher normalerweise keinen Zugang dazu haben – außer im Rahmen touristischer Aufführungen. Wer sich für lebendige Folklore interessiert, für traditionelle Lieder, Tänze und Kleidung seiner Reiseregion, hat also gar keine andere Möglichkeit, als Aufführungen zu besuchen, die vor allem für Touristen gemacht sind.
In Südafrika habe ich einmal eine Show in einem Zulu-Freilichtmuseum gesehen. Männer und Frauen tanzten dort und sangen, schrien und trommelten, spielten Kampf- und Festtagsszenen. Das Publikum bestand ausschließlich aus Touristen, es erlebte Tanztheater mit hohem Unterhaltungswert. Anschließend kam ich mit einem der Darsteller ins Gespräch, statt Rock und Kopfschmuck trug er nun Jeans, Poloshirt und Turnschuhe. Er sei Student der Wirtschaftswissenschaften, erzählte der junge Mann, und in seiner Freizeit beschäftige er sich begeistert mit Geschichte und Traditionen seiner Zulu-Vorväter. Deshalb empfände er es als Glück und Ehre, als Tänzer in der Show dabei zu sein. Nichts von wegen peinlich: Touristenentertainment, Tanztheater, Traditionspflege und Studiumsfinanzierung gingen in dem Museumsdorf eine synergetische Verbindung ein.
Wer Folklore authentischer und »untouristischer« erleben möchte, muss seine Urlaubspläne auf die Volks- fest- und Feiertagskalender der Reiseziele abstimmen. Außerdem muss er ein geschickter Rechercheur sein und über ein großes Zeitbudget für Reisen und deren Vorbereitung verfügen. Denn je kleiner und entlegener das Dorf, in dem ein traditionelles Fest gefeiert wird, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass die Feierlichkeiten vom Tourismus unbeeinflusst bleiben. Die meis- ten berühmten Volksfeste sind zwar bis heute traditionell geprägt, doch ist dort die touristische Ausrichtung schon Teil der Tradition – etwa beim Oktoberfest in München, beim Karneval in Köln, Venedig, Rio oder Trinidad, bei der Semana Santa in Sevilla (dort gibt es viele feierliche Prozessionen und Partys in der Karwoche) oder an Allerheiligen im mexikanischen Oaxaca (dem Día de los Muertos/Tag der Toten mit mehrtägigen fröhlichen Festen auf geschmückten Straßen und Friedhöfen).
Ansonsten gilt für die Suche nach authentischen Folklore-Erlebnissen das Gleiche wie generell auf Reisen: Spontanität, Flexibilität, offene Augen und Ohren bringen einen oft weiter als ausgefeilte Pläne. So erlebte ich 2006 im norwegischen Dorf Geiranger die Feierlichkeiten zur Aufnahme des Geirangerfjordes in die Liste des UNESCO-Weltnaturerbes. Vielleicht 200 oder 300 Dorfbewohner versammelten sich auf einer Wiese, viele trugen Tracht. Volksmusik- und Volkstanzgruppen traten auf – ein Bilderbuchidyll mit Ehrengast: der norwegischen Königin Sonja. Mehrere tausend Touristen, die am selben Tag am selben Ort anreisten, bekamen davon nichts mit. Von ihren Kreuzfahrtschiffen stiegen sie direkt in Busse, um die landschaftlichen Attraktionen der Umgebung zu besichtigen.
An manchen Orten können volkstümliche Künste – Trachten, Musik, Tänze – gerade deshalb überleben, weil Touristen sich dafür interessieren. So zum Beispiel in Phnom Penh, Kambodscha. In der dortigen Apsara Arts Association erlernen Waisenkinder und Kinder aus armen Familien den traditionellen Khmer-Tanz und sie bekommen eine Unterkunft und Verpflegung. So bleibt die Tanzkunst erhalten, den Kindern bleibt ein Leben auf der Straße erspart. Das Training findet täglich außer sonntags von 7.30 bis 10.30 und von 14 bis 17 Uhr statt. Zuschauer sind herzlich willkommen, mit ihren Spenden finanzieren sie das Projekt. 23
FRANKFURT AM MAIN IST KEINE REISE WERT
Schon öfters hatte ich beruflich in Frankfurt zu tun, jedes Mal hängte ich – wie stets auf Reisen wenn irgend möglich – ein paar private Stunden oder auch einen ganzen Tag zwecks Sightseeing an. Immer erntete ich dafür verständnislose Blicke aus Frankfurter Augen, und wenn ich um Spazier- und Besichtigungstipps bat, bestanden die Antworten überwiegend aus Entschuldigungen. »Frankfurt ist eigentlich eher eine Geschäfts- als eine Touristenstadt … Richtige Sehenswürdigkeiten haben wir hier leider nicht … Als Hamburgerin sind Sie sicher sehr verwöhnt …«
Es ist ja ein weitverbreiteter Konsens, die Main-Stadt sei völlig
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