Klemperer, Viktor
kannten keine Dämonen. Hier ist alles schon angedeutet: das Politische, das Antirationale, das überspannt Romantische. Gegen psychologische Kunst, gegen Vermenschlichung u. Individualisierung. Das unerklärt, unzerlegt Dämonische, das dunkle betäubende Gruppenschicksal. Das gefährdete Leben, das aus der Zone der bürgerlichen Sicherung herausgetreten ist, ist zum Gemeinschaftserlebnis geworden. Das Leben schlechthin ist nur als Zahl in das Koordinatensystem des Schicksals eingeordnet, – (dunkelste Phrase! Schicksal kann doch nur auf Leben Bezug haben; sollte Einzelleben gemeint sein? das wäre verständlicher, es wäre eben der völkisch-weltanschauliche Unfug) – und Schicksal wiederum verliert seine Bindung ans Individuum u. ist mit Vaterland identisch. (In diesem zweiten Satzteil ist dann der Unfug deutlich: Du bist nichts, dein Volk ist alles). Der Artikel ist eine Huldigung für den mir unbekannten Regisseur * Jürgen Fehling 5 , der das elementare Theater insceniert. Eine mir reichlich schleierhafte Sache, die aber gemerkt sein will, u. der ich noch weiter nachgehen muß. – –
Aus dem Reich vom 29. X notiere ich noch den Aufsatz: Vom * Winde verweht. 6 Kriegsgedanken zu einem Vorkriegsbuch[] von * Bernhard Payr. 7 Ich las das Buch (37 erschienen) mit großem Genuß, habe aber keine genaue Erinnerung daran. Trotzdem liegt es auf der Hand, daß der Artikel im Reich' verlogene Kriegsarbeit ist. Denn aus den Äußerungen der Helden soll die Unmoral der Yankees herausgelesen werden, u. der Sieg der Nordstaaten soll der Sieg der Unkultur sein, u. in den Südstaaten soll die bessere Menschheit gelebt haben. – * Steinitz, der eben Gone with the wind im Original liest, will für sich eine Widerlegung schreiben.
Endlich merke ich mir noch, Sache u. Wort, das decentralisierte Hôtel . In zerstörten Städten ohne Hôtels richten Hôteldirectoren ein Büreau ein, von dem aus der Gast untergebracht u. mit Verpflegungsstelle versehen wird, es ist also das Gehirn eines Hôtels da, das über disjecta membra 8 herrscht.
Dienstag Vorm. 14. Nov. 44 .
Den größten Teil der voranstehenden Reich-Notizen schrieb ich eben erst. Gestern warf sich mir vielerlei in den Weg. Ich machte am Vormittag wieder einen dreifachen Martyriumsweg zu * Hesse in der Salzgasse um einen Ctr. Briketts. Die Kohlenversorgung ist täglich gefährdeter u. wir haben erst ein Drittel unseres Quantums herein. Ich kann aber * Waldmanns Hilfe um so weniger schon wieder in Anspruch nehmen, als er unter einer Augenverletzung leidet. Ich fühle, wie diese Arbeit mein Herz aufbricht u. muß sie machen. Mit dem Kohlencentner fertig, ging ich mit * E. Kartoffeln holen. Als ich den Rest des Vormittags zum Schreiben benutzen wollte, versagte die übermüdete Hand. – Am Nachmittag mußte ich zu * Simon (der für diesmal am Sonnabend fertigwerden will), u. nach der Rückkehr streikte die Hand noch immer. Ich begann * Lamprechts 1809, 1813, 1815, 9 kam aber nicht weit, denn am Mittag, Nachmittag u. Abend, dreimal hatten wir * Katz hier, der uns intensiv am Schlußakt der Affaire * Cohn teilnehmen ließ. Der arme lange Teufel, schwer herzkrank, solange wir ihn kennen, quälte sich seit ein paar Tagen mit einem Mandelabsceß. Katz schnitt gestern Mittag u. sagte mir Abends, als ich ihm das Haustor öffnete, es stünde fast hoffnungslos. Heute früh berichtete dann * Frau C. unter vielen Thränen, der Mann sei gestern um ¾ 12 gestorben, in seinem 60. Jahr. Mir fiel an mir wieder die entsetzliche herzlose Kälte auf. Nichts als der Bezug auf mich – Hurra, ich lebe! u. Wann trifft es mich? – u. das Stoffsameln für mein Buch. Diese Sammlung ist um etliche Züge zu bereichern: Als Frau Cohn uns die Todesnachricht brachte, war gerade, um 8 h morgens, * Frau Jerisch hier, von * Neumark geschickt, bei dem * Katz fragend antelephoniert hatte. Frau J. (N. s Sekretärin) begann zu weinen u. bat * E. um ein Taschentuch. Nachher sagte mir E.: Die jämmerliche Zeit. Meine Taschentücher plätte ich nicht mehr. Ich hatte noch ein gutes u. geplättetes da; es gehört zu ein paar Stücken, die mir * Kätchen Voß zu treuen Händen zusteckte, als sie ins Barackenlager kam. Sie ist doch nun fast sicher in Polen längst ermordet. – * Frau Stühler – * St. s legten die Todfeindschaft beiseite u. benahmen sich freundschaftlich, sie liehen gestern ein Heizkissen, schenkten ein paar Blättchen echten Tee – Frau St. sagte: Wer weiß was ihm erspart
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