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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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geblieben ist, was uns bevorsteht? Er ist wenigstens nicht von ihr getrennt worden. Auch Frau Cohn hatte das schon betont: Er ist doch wenigstens hier u. bei mir gestorben! Dazu erhielt ich nachher ein fürchterliches Gegenstück. Ich holte Oberflöz aus dem Keller. Nebenan arbeitete eine Frau aus dem Hause, mit der ich schon ein paarmal ein paar Worte gewechselt habe, ohne ihren Namen zu kennen. Ich sagte ihr, Cohn sei tot. Darauf sie, erschüttert: Die Frau weiß doch wenigstens, wie es mit ihm zuende gegangen ist, sie war doch dabei! Aber ich! Ich weiß es nicht von meinem Mann u. meinem Kind! Das ist also die * Frau Bein, der man * Mann u. * Sohn auf der Flucht erschossen, d.h. im Kz ermordet hat, u. die täglich die Urnengräber auf dem Friedhof besucht. – Dann traf ich noch auf der Treppe die kleine * Frau Spanier, die * E. s Mutter 1 ähnlich sieht; ihr * Mann ist seit Jahren im Kz, ihre * Tochter wurde neulich in der * * * Frischmann-Affaire geholt. Sie reagierte kurz: Er hat nichts verloren; wir erleben s ja doch nicht mehr. – – In der Küche Frau Cohn zu Frau Stühler: Ich hätte so gern mit ihm gebetet. Aber ich kann doch nicht das Vaterunser sagen – sie haben doch andere Gebete. Die Hände habe ich ihm gefaltet. Dazu Frau St. mit Überzeugung : Sie hätten es ruhig beten können. Wir sind alle Gottes Kinder. Ich, weil es sich gehört, ohne Überzeugung: Das Vaterunser können Sie ruhig für ihn beten. Jeder Satz ist aus dem A T. übernommen. Wieder packte es mich, wieweit, trotz allem u. allem, der Glaube an den lieben Gott verbreitet ist, u. welche Unmöglichkeit dieser Glaube für mich bedeutet. Für * Eva auch, aber sie ist dem gegenüber viel stoischer, viel gleichgültiger. – Endlich factum tragicomicum et caracterissimum 2 : * Cohn habe gestern wiederholt deliriert (üblich in der Sepsis, sagt Katz). Er saß in seinem Sessel u. starrte auf den Teppich. Was dort zu sehen sei, fragte * Frau C.: Da waren doch eben noch Hühner- u. Gänsestücke; wo hast du die hingetan? Sterbephantasie, wenn man keine Fleischkarte hat! Ich würde wohl süßen Kuchen u. süßen echten Kaffee phantasieren. –
     

 
    Mittwoch Morgen 15. Nov 44 .
     
    Die Tgb-Notiz beizeiten machen – denn nachher sind wieder Kohlen vom * Händler zu schleppen. –
    Gestern Mittag 1 Uhr Alarm, nur kleiner u. ganz kurz, aber * E. um ihr Mittagessen beraubend, da auch bei kleinem Alarm das Volkswohl keine Mahlzeiten ausgibt.
    Am Nachmittag mußten wir uns Cadaver * Cohn ansehen; er lag sehr friedlich u. lächelnd da, aber das Lächeln dürfte ihm schon heute vergangen sein, der Hals hatte gestern schon fatale Flecken. Dann kamen die Leichenabholer, Eva nahm die fassungslos weinende * Frau u. ihre * Schwester, gutmütiges, verkümertes u. verkrüppeltes Stück Elend, in unser Zimmer. Ehe die beiden noch heraus waren, setzte Condolenzbesuch aus dem Hause für sie ein. Jahrmarkt der Jämerlichkeiten, Plattheiten, stillvergnügten1245 Hurra-ich-lebereien. Witkowski, der uns alle überlebende lebende Leichnam, geradezu triumpfhaft lärmend: Ich will ihm eben einen Krankenbesuch machen, da höre ich, er ist tot! Ich denke, ich werde verrückt! u. halblaut zu mir: Das Leben ist Scheiße!, aber mit offenbarer strahlender Freude an dieser Scheiße; dazwischen die eifrig angeregte Blechtrompete seiner mageren u. immer etwas heftigen * Frau. Dann das ménage * * Kornblum, der Mann ein verkrümmtes Gerippe, das sich mühselig hinschleppt, die Frau klein, dick, unzufrieden. Kornblum pathetisch strömend: Seit 30 Jahren kenne ich ihn .. der liebe Gott wird .. er kam in meinen Laden .. der liebe Gott .. auch im Tempel sahn wir uns, u. nie hat es eine Differenz zwischen uns gegeben .. der liebe Gott ... Ich erfuhr durchaus nicht, was es mit dem lieben Gott auf sich hatte, aber es klang sehr lieb u. tröstlich. Einen Augenblick ließ sich auch * Jakoby in seiner Würde als Undertaker 3 sehen (Nur ihm nicht in die Hände fallen! Nur keine Predigt von ihm!). – Ich unterrichtete * Bernhard St. – wofür ich seit dem 9. X kein Gramm Brod gesehen habe! –, ich las im * Lamprecht, aber Cadaver Cohn lastete immer auf mir. Und lastet auch heute noch. – Dazu das törichte ständige Bemühen, sich durch vielfaches Händewaschen vor Ansteckung zu schützen. Die Haut geht fast in Fetzen, u. dabei ist das ganze Bemühen sinnlos, denn alle Klinken etc. sind von den Frauen befaßt, die ständig mit dem vereiterten Kranken u. Toten hantierten. –

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