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Klemperer, Viktor

Klemperer, Viktor

Titel: Klemperer, Viktor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die Tagebücher
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Zettel hat mir bisher noch niemand abgefordert, ich bin ohne ihn ausgekomen u. abgeschwollen.
    Am Freitag, 18. V., um 3 h aufgewacht, um 4 h aufgestanden, um 5 h vergeblich auf den Wagen gewartet, um 5 20 zu * Fl., der fluchend nach dem Rechten sah. Gegen ¾ 6 stand dann der Wagen vor unserm Amtshaus. Ein höchst ungefederter Bauernwagen, man fuhr wie auf der Lafette, aber zwei hübsche Rösser davor, als Mitpassagiere zwei uns schon bekannte Frauen, die in Aichach einkaufen wollten, schönste Morgenfrische, glückselige Rüttelfahrt, Abschiedsblicke über die vertraute Landschaft, Erinnerungen an den beschwerlichen Marsch des Tages vorher; die weiße Fahne vor dem Storchennest auf dem Kirchturm in Großhausen (?), sie nahm sich wie ein praesentierender Storch aus, der eingebeulte große amerikan. Panzer in einem Oberbernbacher Gehöft .. Genau um ¾ 7 am ersten Ziel. Die Kunstmühle, dicht am Ortseingang gelegen, ist ein bedeutender Gebäudecomplex um einen mächtigen Platz, der Hof u. Garten bildet, als offenes Viereck gebaut. Hinten ein mächtiger Fabrik- u. Siloblock, mit vielen Schußspuren; gewaltige Schuppen- u. Garagenbauten rechts u. links, ein Wohn- u. Büreauhaus links vorn. Bäume, Beete, anschließend ein Stück Park – das Ganze macht einen sehr bedeutenden u. gediegenen Eindruck. Riesige Laster rollten aus den Garagen u. gingen in Stellung. Der unsere hatte hundert Sack zu laden, es blieb uns viel Zeit. Der Director erzählte indessen. Er habe die Sprengung der Brücke verhindert, indem er die Sprengkapseln entfernen ließ; dafür habe ihn derKommandeur hängen lassen wollen, sein Leben sei fast verloren gewesen, er habe aber alles Wissen geleugnet. (Den Abend zuvor erzählten die * * Schwestern einen bösen Hängefall: ein in Ub. lebender Urlauber, Deserteur also, Familienvater, hatte ich in Aichach einkaufen wollen u. war nicht zurückgekomen. Es kam dann verspätet ein Brief, den er vor der Erhängung geschrieben, letztes Opfer derim allerletzten Augenblick). – Der Laster wurde mit Holzgas getrieben, wir saßen im ganz zugebauten Führerstand neben Fahrer u. Beifahrer, es war in dem geheizten engen Raum trotz geöffneter Fenster erstickend heiß, u. die Fahrt, erst gegen 8 h angetreten, ging wahrhaftig nicht viel schneller als im Pferdewagen: zu etlichen 50 km. brauchten wir reichliche zweieinhalb Stunden. Beide können wir nicht angeben, welchen Weg wir im Einzelnen verfolgten; wir waren bald auf der Reichsautobahn, die sich nun schnurgerade u. öde mitten durch die Natur, meist über Wiesenfläche, selten einmal durch Waldstücke zog. In der Ferne sah man einzelne Ortschaften, an der Autostraße las man bisweilen Namen, im Anfang Dasing, sehr viel später Dachau – aber ein Ort selber tauchte niemals an der Straße auf. Dies ist die Todsünde dieser Straßen, daß sie nur dem Luxusjagen von Hauptpunkt zu Hauptpunkt dienen. Die Hitze im Wagen erschöpfte, die Langsamkeit ermüdete. Ich las Dachau – las nur den Namen – Gott weiß, wo der Ort lag. Ich glaubte, nun seien wir bald in München. Aber das dauerte u. dauerte. Inzwischen überholten uns immerfort Militärautos, u. ganze Kolonnen fuhren in entgegengesetzter Richtung an uns vorbei. Manchmal sah man Wagen halten, manchmal hielten wir, um zu heizen. In solch einer Pause trat ein Soldat an uns heran – ich dachte zur Paßkontrolle, er steckte aber schweigend eine Cigarette durchs Fenster .. Von der Nymphenburger Gegend her fuhren wir gegen ½ 11 in München ein, nun gab es aber verschiedene Haltepunkte, an denen Mehl abzuliefern war. Jetzt bekam ich einen Begriff von der Stärke der amerikan. Besatzung. Geradezu ununterbrochen rollen in allen Richtungen Fahrzeuge aller Art. Riesige Transportwagen, die wie auf Räder gesetzte Oderkähne aussehen, andere Riesen in üblicher Form, teils mit Waren, teils mit einer Menge Soldaten besetzt, andere Riesen mit Gasolintonnen, hiervon lange Züge, immer neue Züge – u. dagegen wollten wir ankämpfen ohne Öl! – Traktoren, die schwere Geschütze hinter sich schleppen. Dazwischen wusseln immer u. immer wieder kleine unschöne aber flinke offene Wagen, oft nur Sitze auf dem Chassis, aber sehr oft mit ragenden Metall-Angelruten, die Radio-Antennen sind. In diesen grauen häßlichen Würmern sitzen vier bis sechs, manchmal auch nur zwei Soldaten. Sitzen stimmt nicht, sie fleetzen sich lässig vergnügt, irgendwo hängt immer ein langes Bein laatschig heraus, u. ebenso laatschig liegt die linke Hand

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