Klemperer, Viktor
Schierling – von da soll es Milchauto bis nach Regensburg (32 km) geben...
Ich hole noch nach, dass wir an diesem Tag das Geheimnis der unzähligen Holzstückchen ergründeten, die auf allen Fahrstrassen liegen: die stammen aus den Futtersäcken der Holztreibgaswagen. Es sieht aus, wie ein amerikanischer Film aus den Anfängen der Eisenbahn, wenn die Fahrer das Holz aus den Säcken in die plumpen eingebauten Öfen schütten und dann herumstochern und schüren ... Ich möche auch noch die schöngerahmte Widmungstafel zur Silberhochzeit nachtragen, die die Kinder des * Nestroyehepaars ihren Eltern geschenkt haben, und die nun das Ehezimmer über der dreckigen Küche schmückt. Für Schierling musste mir eben * E das Gedächtnis auffrischen, und ganz im Détail steht doch nicht mehr alles vor mir. Wir fanden wieder einen guten Pfarrer, ich weiss nicht mehr, wie er aussah, ich weiss nur, dass wir ihn nicht zuhaus sondern im Gasthof fanden, dass auch er sofort meinte, ein Dorf wäre vorteilhafter für uns gewesen – auch Schierling war wieder Marktflecken –, dass auch er sich sofort mit grosser Liebenswürdigkeit in Marsch setzte und unsere Sache ordnete, während wir ein Bier tranken. Diesmal kamen wir aber zu keinem dreckigen Mistbauern, sondern in ein grosses klares Gehöft mit grosser Küche im Haus, alles stattlich und behäbig. Ich weiss, dass wir sehr wohl aufgehoben und verpflegt wurden, man legte uns Matratzen und Bettzeug im Vorraum des Oberstocks auf den Boden, man gab uns auch am nächsten Morgen zu essen und war zu Geldannahme nicht zu bewegen. Es war aber zuviel andere Belegschaft im Hause, Militär und Flüchtlinge, als dass wir mit den Leuten in so nahe Beziehung gekommen wären, wie etwa mit den guten * Flamensbecks 2 No 2. Das mag auch der Grund sein, weswegen diese Phase der Wanderschaft ein bisschen verblasst ist. Jedenfalls waren wir hier wieder dem durchaus menschenfreundlichen und freigebige[n] Bauern begegnet. Nur nicht DER sagen!
Vierter Tag also: Dienstag, 29. Mai, Strecke Pf[e]ffenhausen–Markt Schierling etwa 20 km.
Der fünfte Tag[,] Mittwoch, begann mit einer schweren Enttäuschung und brachte drei dramatische Höhepunkte. Der Mann des Milchautos war ein rüder Dickkopf und lehnte es ab uns mitzunehmen. Wir begannen nun die Wanderschaft mit einem sehr müden Schlich nach dem 4 km entfernten Eggmühl. Diesmal taugten auch * E.s Füsse nicht, an diesem Tage hat sie zum erstenmal manche Strecke nacktbeinig in Hausschuhen durchschritten. Sie hatte auch nach dem vielen Durcheinandertrinken des vorigen Tages eine schlechte Nacht gehabt, und zu auffrischend ausführlicher Waschung war in Schierling keine Gelegenheit gewesen ... In Eggmühl lag auf steinernem Sockel ein recht trübseliger Löwe. Da fiel mir ein, dass es sich hier offenbar um das Schlachtfeld Eckmühl handelte, nach dem ein napoleonischer * General und Herzog von 1805 3 heisst. Später kam – ja was? die Stichworte tanzen hier aus der Reihe, und die Erinerungen tun es auch. Da war Waldrast und das beschriebene vergebliche Warten auf ein Fuhrwerk, da war ein Heimkehrerlager mit Kinderwagen und aufgehängter Wäsche, da war * E. nacktbeinig in Hausschuhen, da war Landschaft wie englischer Garten und in weiter Ferne eine Hügellinie, die wohl schon das nördliche Donauufer bezeichnete. Da waren zwei Teller Suppe, die wir auf der Treppe des wohltätigen Bauernhauses löffelten, wobei ich an die Zeiten im Elternhaus dachte: man reichte dem Bettler einen Teller Suppe auf die Treppenstufe des Küchenausganges, u. xmal fand man nachher die Suppe unangerührt – dem Mann war es um Geld für Schnaps zu tun gewesen – Hunger hatte er keinen, wer hatte vor dem Weltkrieg in Deutschland Hunger? Wieder eine Rast, am frühen Nachmittag, und dann erscheint der Ochsenwagen, der uns eine merkwürdig lange Strecke in würdigem Tempo mitnimmt, und der bereits zwei ältere Frauen zu Passagieren hat. Die Frauen, Kleinbürgerinnen aus Regensburg und von ausgedehnter Hamsterfahrt heimkehrend, fühlen sich zu uns hingezogen, die eine erzählt mit ungeheurer Lebendigkeit des Tonfalls[,] Mienenspiels und ausholenden Gestikulierens das Regensburger Ereignis. Die Amerikaner hatten ein Ultimatum auf Übergabe gestellt, andernfalls wollten sie die wehrlose und schon schwer beschädigte Stadt durch ein massiertes Fliegergeschwader vernichten. Die SS weigerte sich, die Frauen der Stadt demonstrierten leidenschaftlich auf dem Markt. Da stieg der
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