Klemperer, Viktor
und für mich vermehrte Hausarbeit u. vermehrte Stöße gegen das buchstäblich u. nicht etwa nur im übertragenen Sinn müde Herz.
Dazu die wachsende Tyrannei, das wachsende Elend rings um uns u. die sinkende Hoffnung auf ein absehbares Ende. (Obwohl das Zähneknirschen in den verschiedensten Schichten immer deutlicher hörbar wird.) – Besonders widerlich ist uns das Verhalten mancher Juden. Sie fangen an sich innerlich zu fügen und den neuen Ghettozustand atavistisch als einen hinzunehmenden gesetzlichen Zustand anzusehen. * Gerstle, der Director des lukrativen Feigenkaffees, nebenbei Schwager des ausgewanderten * Jule Sebba sagt, * Hitler sei ein Genie, und wenn nur erst der Außenboykott Deutschlands aufhöre, werde man leben können; * Blumenfeld meint, man dürfe sich nicht von Wunschträumen nähren u. müsse sich auf den Boden der Tatsachen stellen; * Vater Kaufmann – sein * Sohn in Palaestina! – spricht ähnlich u. seine * Frau, die ewige Gans, hat sich an die Schlagwörter der Presse u. des Rundfunks gewöhnt, u. papageit von dem überwundenen System, dessen Unhaltbarkeit sich nun einmal erwiesen hätte. ( Wir mußten neulich, am 25/9, nach jahrelanger Pause auf einen schauerlichen Nachmittagskaffee zu Kaufmanns, weil die Hamburger Schwester, * Frau Rosenberg, dort war, u. weil wir der ständigen Umwerbung nicht mehr ausweichen konnten. Bei den gefügigen Großeltern lebt das * 6monatige Töchterchen der ausgewanderten jungen * * K. s; Frau Rosenberg erzählt, wie ihr als Anwalt mattgesetzter * Sohn Erwerb sucht u. das Auswandern erwägt – u. die alten Kaufmanns söhnen sich mit dem gegebenen Zustand aus! Ein Hundsfott, wer nicht jede Stunde des Tages auf Empörung hofft! * Evas Erbitterung ist noch größer als meine. Der Nationalsozialismus, sagt sie, genauer: das Verhalten der Juden zu ihm, mache sie antisemitisch. – * Dember hat nun einen sicheren Ruf an die Univ. Konstantinopel, u. wird Mitte Oktober übersiedeln. Eigentlich beneide ich ihn. Wir waren in letzter Zeit mehrfach zusamen. Einmal, nach einer Sitzung, an der ich nicht teilgenomen, rief mich * Robert Wilbrandt an, ob wir nicht zum Thee zu ihnen komen möchten. Vor etlichen Jahren waren wir in ihrer damals ganz neuen Villa bei Wachwitz, dann war das eingeschlafen. Wir acceptierten u. gingen nicht. Eine Woche später bat ich ihn telephonisch um Entschuldigung und bat ihn zu uns. Er nahm an – müsse uns aber fragen, ob wir einen staatsgefährlichen Gast wünschten? – Wieso? – Er sei plötzlich entlassen. – Am Sonnabend war er bei uns, ohne die * Frau, die einen Gallenanfall hatte. Politisch unzuverlässig, man hatte die Affaire des Pacifisten * Gumbel 1 ausgegraben, für den er (in Marburg noch) eingetreten war. Der Mann ist 58 Jahre, schwer leidend, nicht mehr wohlhabend, hat Kinder aus zwei Ehen. Wir sprachen von seinem * Vater, 1 von seiner neunzigjährigen Mutter * Auguste Baudius. 2 Denselben Abend waren Blumenfelds * * bei uns, u. * Gusti Wieghardt , diese nach 4 Monaten zurück aus Turø, wo sie mit ihrer * Schwester Maria bei * Karin Michaelis 3 gelebt hat. Dort scheint eine kleine Emigranten- u. Communistengruppe beisammen. Gestern Abend war Gusti dann allein bei uns, u. ins morgen sollen wir bei ihr sein. Man erzählt sich viele Einzelheiten, Greuelmärchen, Märchen natürlich. Die Stimmungen über die Dauer des Zustandes divergieren, an rasche Änderung glaubt niemand, was danach komt, weiß niemand. Sicher ist, daß sich der Terror täglich verstärkt. – In der Landesbibliothek traf ich Ulich * . 4 Er ist mit halbem Gehalt entlassen. Er erzählt, man übe einen Druck auf ihn aus, seine Honorarprofessur freiwillig aufzugeben. Andernfalls werde man ihn auf 200 M. herabsetzen. Da seine erste Frau, * Ulich-Beil, 5 ebenfalls entlassen ist, so hat er allein für zwei Familien zu sorgen. – * Holldack, der einst so stolze u. teutsche Holldack (sein Leipziger * Bruder 6 mußte gehen, die * Mutter ist Jüdin), hat sich an * Dember gewandt: ob für ihn in Konstantinopel Möglichkeiten bestünden; er fühlt sich hier nicht mehr sicher. – * Georg schrieb mir heute, sein * Otto sei am Cavendish-Laboratorium in Cambridge, sein * Jüngster, der Nationalökonom in Chikago untergebracht, das Schicksal der beiden mittleren * * Söhne schwebe noch. * Marta schrieb, 7 die drei * * * Töchter Sußmann 8 seien fort. In ihrer wirren Art vergaß sie zu sagen, wohin.
Man könnte das Sprichwort variieren u. sagen: Das Schlechtere
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