Klemperer, Viktor
falscher Athemführung (Eva!) ein langes halb Schund- halb Volkslied singt u. hinterher ausspuckt. Gut, aber ein bisschen sehr * Jannings-Copie, 4 wie er den guten Vater, wie den hilflos Verführten spielt. Das Lied, sagt E., klingt wie das * Horst-Wessel-Lied. Gut * Marie Drews 5 als Schifferfrau, dörflich, vertrauend, dann hart, fanatisiert, leidend. Die Dirne, * Betty Amann 6 ein wenig Schablone. Gut der fanatische Junge, der auf den eigenen versoffenen Vater u. Quäler seiner Mutter mit dem Beil losgegangen ist, der jetzt die Ehe der Schiffersleute retten will u. die Dirne verjagt. (Wobei er theatralisch überfahren u. zum rettenden Märtyrer wird. [–] * Wilfried Seyfert 7 h). Sehr schön manche Aufnahme vom Oderkahn, von Flußfahrt u. Schleuse.
Um Eva etwas aufzufrischen – es tut ungemein not – gestern doch wieder ein[e] Blaufahrt. Zum Teil düsteres, manchmal sonniges Herbstwetter. Ein sehr großer Genuß. Es war wie eine Paraphrase früherer Fahrten in Herbststimmung. Erst wieder die Berge der sächs. Schweiz zur Linken, ungefähr die Heidenaustrecke. Dann die Wendung auf Possendorf zu u. auf schmalen Waldwegen nach Wendisch-Carsdorf u. Malter. Die Talsperre in umgekehrter Richtung wie vor 14 Tagen umfahren. Prachtvoll bei düsterem Himmel. Hierauf über Seifersdorf u. Höckendorf (etwas mehr Jejend als Landschaft) wieder in prononcierteres Waldgebiet: Edle Krone, Tharandt, dann aufsteigend: Grumbach, Kesselsdorf, Wurgwitz, Pesterwitz, einen Augenblick lang Gemeinde Dölzschen – bei uns zu Haus u. nicht zu Haus –, die schönen, bekannten u. immer wieder schönen Blicke auf Windberg, auf Elbhügel, auf Dresden. Schließlich in Roßthal, Cafe Griesbach, gelandet. Ein ungheurer Ausblick bei aufgeklärtem Himmel: die Stadt, die Elbhügel, die sächs. Schweiz. Wir sahen weiter nach Osten als von unserem Dölzschener Terrain aus. Wir machten einen kleinen Spaziergang: bergauf u. -ab greifen hier verschiedene Gemeinden ineinander, ebenso Dörfer, Kleinstadthäuser u. Villen. Danach steil herunter u. geradlinig über Gorbitz u. Löbtau zurück.
Heute Vormittag Landesbibl. Es ist mir unmöglich dort zu arbeiten; ich studiere nur den Katalog, suche auch, orientiere mich. Ich staune immer wieder über den Reichtum an 18 e siècle.
Nachmittags lange beim Anwalt. Mein Prozeß, jetzt fast ein Jahr alt, steht sehr schlecht. Die sinnlose sinnlose Gegenklage * Huebers, das feindselige Gutachten des Sachverständigen .. Wir glitten ins Politische, die Unsicherheit meiner Lage, meine große Bitterkeit kamen zu Wort, da * Langenhan 1 ein sympathischer vertrauenswürdiger Mann ist. Er war vollkomen erschüttert. Er sagte, er u. sein Kreis seien immer gegen * Hitlers maßlosen Antisemitismus gewesen, aber es sei ihm neu, u. es deprimiere ihn schwer, daß so großes Unheil angerichtet werde. Er sagte, wir seien kein Rechtsstaat mehr.
Gestern auf der Blaufahrt kam ich ins Gespräch mit dem Cabaretmann, der neulich den Witz von der verweigerten Dauerwelle vortrug. Das sei ihm nur so herausgefahren, sagte er u. sei nur das einemal vorgekomen. Er sei sächsischer Komiker u. müsse bei der KVG 2 für einen Bettellohn arbeiten, weil er keine Engagements mehr finde. Die Cabarets litten so ungemein unter der Judenverfolgung. Er selber sei Arier – aber es gebe eben in den Cabarets nichts mehr zu tun. Directoren u. Gäste seien zu großem Teil Juden gewesen.
Ich lese ständig, mit Interesse aber hoffnungslos, zum 18 e siècle. Vorlas Vorgelesen habe ich längere Zeit * Rudolf Lindau ; er ist aber doch eng. Gut nur in den exotischen Novellen. Im Roman immer die leeren jungen Leute mit vielem Geld u. vieler Dekadenz. Keine Substanz, auch psychologisch oft schwach. Jetzt wieder * Paul Lindau: Spitzen . 3
9. X Montag
Geburtstagswünsche: Noch einmal * Eva gesund sehen, im eigenen Haus, an ihrem Harmonium. Nicht jeden Morgen u. Abend zittern müssen vor einem Weinkrampf. – Das Ende der Tyrannei u. ihren blutigen Untergang erleben. – Mein 18. Jahrhundert fertig u. gedruckt sehen. – Keine Seitenschmerzen u. keine Todesgedanken.
Ich glaube nicht, daß mir auch nur einer dieser Wünsche sich erfüllen wird.
Die Stimmung bei uns zu Hause u. unser beider Gesundheit wurde vollkommen schlecht, als sich die letzte Hoffnung auf Baugeld zerschlug, als es sich auch als aussichtslos erwies, irgendwie nach Dölzschen hinaufziehen zu können. Wir müssen hierbleiben, u. das bedeutet für Eva Gefangenschaft den Winter über,
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