Klemperer, Viktor
wieweit sie rheumatischer Natur, wieweit Herz = verursacht sind. Immer die Bedrücktheit Evas. Immer das Geld-Elend.
Zweimal – schöne Herbstausflüge – waren wir bei * Hauber; ein förmliches Gut bei Tolkewitz. Bäume aussuchen. Seit mehreren Tagen bereitet jetzt * Eva oben alles zum Pflanzen vor. Sie fährt um 11 Uhr hinauf, ich hole sie um drei ab. Das kostet jedesmal 5–6 M. Autogeld. Hin Danach ist sie dann übermüdet u. erst recht traurig. Sie will jetzt eine Mauer, oder ein Stück Terrasse arbeiten lassen. Ich sage bis zum letzten Pfennig Ja u. Amen, aber ich bin dicht an diesem letzten Pfennig. Mein zusamengeschrumpftes Gehalt erfordert neuerdings freiwillige Abzüge. []Winterhilfe, Nationale Arbeit. 1 % vom Gesamteinkomen, 10 % von der Einkommensteuer – das wird so festgesetzt. Rektor u. Senat haben beschlossen – wenn kein Widerspruch erfolgt, zieht die Kasse den Betrag vom Gehalt ab. Wer wagt Widerspruch? Und keine Möglichkeit etwas zu publizieren. Die philologischen Fachschriften, die Zeitschrift des Hochschulverbandes bewegen sich derart in Gesinnung u. Jargon des dritten Reiches, daß jede Seite Brechreiz verursacht. Die Novemberlinge 1 – * Hitlers eiserner Besen – der jüdische Geist – die Wissenschaft frei auf nationalsocialistischer Basis usw. usw.
Ich lese immerfort zum 18. Jh., aber ich werde wohl nie zum Schreiben komen. Zuletzt alle 7 Bde der * Mémoires d un ho m e de qualité . 2
Vorgelesen: 1) Eça de queirozz * Queiroz 3 : Die Reliquie . Der Übersetzer sagt: portugiesischer * Zola 4 , aber auch * Flaubert 5 u. * France 6 u. ein Eigener. Das stimmt. Geschichte eines heuchelnden Erbschleichers. Er will seine frme Tante durch Frömigkeit erobern. Wallfahrt zu nach Jerusalem, Erotik u. Hohn auf Reliquien. Er bringt ihr die Dornenkrone mit. Durch Verwechslung des Paketes erhält die Tante ein Dirnennachthemd. Soweit * Voltaire, 7 France, * Rabelais. 8 Der moralisierende Schluß: ich bin für Heuchelei bestraft! ist beinahe mittelalterlich predigerhaft. Dahineingesetzt aber ganz breit, wohl ein Drittel des Buches, die Vision des Prozesses Christi, die Parteien in Jerusalem, die mitbetroffenen armen Teufel bei der Austreibung der Wechsler aus dem Tempel .. Große Farbigkeit u. Wucht, wirklich: Flaubert. 2) * Werner von der Schulenburg 9 : Stecchinelli . Das ist eine kulturhistorisch bedeutende Chronik aus dem 17. Jh. Ein Venetianer, der Tuchhändler, Postmeister u. Diplomat am braunschweigischen Hofe wird. Sitten der Zeit. Sehr gepflegt u. sehr pessimistisch geschrieben. Der Roman erschien 1911. Ich bin verwundert, daß er so unbekannt blieb. Beide Bücher hat mir * Dember geliehen. – Ein wirklich gutes Buch ist der Stecchinelli doch nicht. Man sieht nicht recht plastisch die innere Entwicklung des Helden an seiner Frauenreihe. Er will genießen, er will Renaissancemensch sein, er hat Sehnsucht über Sinnlichkeit hinaus, er hat Gewissensbedenken, er komt zum Frieden. Wieso aber befriedigt ihn der Gelderwerb als Kaufmann, worin ist er schöpferisch? – Wesentlich besser das mehr accidentielle Kulturbild – Venedig, die kleinen deutschen Herzöge etc. Gut einige lyrische Reflexionen über die Wege der Geschichte – höchst pessimistisch.
Montag gegen Abend 30. October .
Ich arbeite, ich mache Geldausgaben, als ob ich meiner Zukunft sicher werde wäre. Dabei mahnt mich jede Stunde mein Herz, dabei glaube ich gesundheitlich vor dem Zusamenbruch zu stehen u. glaube, daß etweder die Tyrannei noch lange dauert oder vom Chaos abgelöst wird. Ich will dies Alsob-Handeln fortsetzen, alles andere wäre noch sinnloser.
Die Ausgaben: * Eva fährt fast täglich im Auto nach Dölzschen u. zurück. Heute war Großpflanztag, ein ganzer Park. Das mag 100 M. kosten, jetzt ein Vermögen für mich. Auch beleihe ich nun wieder meine Lebensversicherung, wohl um 600 M., um dort oben einen Keller, einen Unterstand sozusagen bauen zu lassen. Das kostet neue Zinsen. Aber E. drängt verzweifelt, ich kann u. will nicht Widerstand leisten – vielleicht behält sie recht, u. der Bau komt doch noch zustande. Und bricht alles zusamen, so hat sie wenigstens noch etliche frohe Emotionen gehabt, u. ich habe das Meinige, selbs selbst ultra posse, 1 getan.
Die Arbeit: seit Tagen * Prévost, Notizen zum Homme de qualité, die mir die schönste Sonderstudie ergäben – Conjunctiv – wenn ich nämlich eine Zeitschrift dafür wüßte. Aber was soll ich anderes tun als mich durch Studien betäuben?
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