Klemperer, Viktor
andere. Das sind heute keine Deutschen mehr!
Ich beziehe alle Lectüre, alles Erleben auf mein unseliges 18. Jh. Damals, im Anfang wenigstens, die Fülle der Reiseberichte. Komt es mir nur so vor, daß heute bei uns eine gleiche Fülle von Reisewerken blüht, ein gleiches Interesse daran lebt – oder ist nur mein Interesse daran erwacht, u. hat es zwischen 1700 u. 1930 immer gleich viele Reisewerke gegeben? Wenn wirklich heute ein neuer Aufschwung der Reiseliteratur herrscht, so wäre der Grund: heute ist Deutschland zu eng, wie damals Frankreich zu eng war. Und heute ist die Welt im Wandel, wie sie damals im Wandel war. Aber: Frankreich war geistig zu eng, nicht räumlich; u. Deutschland ist – vor Hitler räumlich zu eng, nicht geistig – u. seit * Hitler räumlich u. geistig . Zu vergleichen ist die Interessenrichtung der Reisenden damals u. heute. Damals praevalierte das Religionsmoment, heute das wirtschaftliche. Damals fehlt alles Landschaftsgefühl.
Politisiert wird damals u. heute viel. Damals fehlt jeder sociale Einschlag, fehlt die complexe Weltpolitik. Damals ist man sich einig in einigen sanft demokratischen Grundanschauungen ohne daß ein selbstverständlicher Glaube an Königs- u. Adelsrechte angetastet wird. Das Volk wird durchweg bald mit wohlwollender, bald mit kühler Verachtung, aber immer mit Verachtung behandelt. – –
Der 30. Januar brachte: Das Gesetz zum 30. Januar. Einheitsstaat – es gibt keine Länder mehr. Absolute Centralisation. Das hat der Jude * Preuß 1 in der Weimarischen Verfassung angestrebt u. nicht entfernt erreichen können. Das hat mir selber immer als etwas Großes, als das große französische Vorbild, vor Augen gestanden. Nun ist es von einer Handvoll brutaler Staatsräuber dekretiert worden. Die einstimmige Annahme durch den Reichstag (die 600 nat.-soz. Deputierten) war ist Farce. Ungeheuer u. ungeheuerlich zugleich. Ist Deutschland wirklich so ganz u. im Kern anders geworden, hat es so ganz sein Wesen geändert, daß dies Bestand haben wird? Oder herrscht nur momentane Lethargie?
Ich habe mich durch 3 von 6 Bänden der ganz durchschnittlichen * * Lettres juives 2 hindurchgeackert. Ich kann nicht mehr zusamenfassen u. schreiben wie in früheren Jahren – die Entschlußkraft fehlt. Ich hänge hilflos am einzelnen. Ich arbeite wissenschaftlicher, gründlicher, tiefer, reifer – sicherlich alles das: aber ich kome zu keinem Ziel mehr, der eigentliche Wurf bleibt aus, ich bin älter u. zu alt geworden; ich glaube nicht mehr, daß mein 18. Jh. jemals zu Stande komt. Früher hätte ich ein Dutzend dieser Briefe gelesen; jetzt werde ich die nächsten drei Bände auch noch durchgehen.
7. II Mittwoch .
Am Sonnabend waren wir zum Abendbrod bei den * * * * anständigen Köhlers in der Waltherstr. Es tut wohl, wie diese ganz arischen Leute aus ganz andern Gesellschaftskreisen – der Sohn Studienassessor, der Vater Bahnhofsinspector – an ihrem leidenschaftlichen Haß gegen das Regime festhalten u. an ihrem Glauben, auf es müsse in absehbarer Zeit stürzen. – Am Sonntag zum Abendkaffee (als einzige Gäste) bei * * Blumenfelds. Auch hier (schwankende Stimmungen!) war man nicht mehr so ganz überzeugt von der ewigen Haltbarkeit des Gegenwärtigen. Weil eben ein Zähneknirschen durch allzuviele Schichten, Beru Berufe, Confessionen geht. – Aber in mir selber bin ich doch immer wieder mutlos. Und meine Kräfte, alle meine physischen u. psychischen Kräfte, zehren sich immer mehr auf. Die Arbeit stockt gänzlich; bloß das Montagscolleg rechtzeitig fertigzustellen, ist jedesmal ein Martyrium. So begrüße ich es, daß das Semester schon am 24. II schließt. Freilich, es schließt weil die Studenten zum Arbeitsdienst einrücken müssen, weil das Régime tatsächlich in Bildung, Wissenschaft, Aufklärung seine eigentlichen Feinde sieht u. bekämpft. – Joh. Köhler erzählte von einer Versammlung des nationalsoc. Lehrerbundes. Der Redner sagte dort: wir sind die Leibeigenen unseres * Führers.
15. II Donnerstag gegen Abend .
Zur Zeit ist * Evas Gesundheit u. Stimmung ein wenig besser, und das bedeutet für mich ein bißchen Licht u. Aufathmen. – Aber der Sorgendruck ist unvermindert. Keine Aussicht in Dölzschen voranzukomen, * * Dembers, deren Sperrkonto meine letzte Geldhoffnung war, schweigen vollkommen. Auch der Druck des * Hueberprozesses ist unvermindert. Ein neues Gutachten für 100 – vorläufig muß es Hueber zahlen, aber zuletzt werde ich
Weitere Kostenlose Bücher