Klostergeist
und die ersten zaghaften Bier- und Vierteles-Bestellungen wurden getätigt. Die Bedienungen huschten zwischen den Reihen entlang, tauschten leere Thermoskannen gegen volle, tafelten einen Hefezopf nach dem anderen auf. Ein Wurstbrot wäre dem Pater lieber gewesen, aber es gab einzig und allein den obligatorischen Hefezopf. Nur der Herr allein wusste, warum ausgerechnet das süße Gebäck Leichenschmaus-Verköstigung Nummer eins war. Immerhin wurde heute Butter dazu serviert.
Pius saß einen Tisch von der Witwe und dem Cousin des Verstorbenen entfernt. Eigentlich hätte der Pater direkt neben Marlies Engel sitzen sollen, doch Mike Ritter hatte sich, ohne auf Konventionen zu achten, an den Tisch der Prominenz gehockt. Pius war dem Lokalreporter nicht böse – die Trauerrede hatte ihn ausgelaugt und er verstand den rasenden Mike: Wahrscheinlich war das die Story seines Lebens.
Jens-Uwe Engel war sichtlich mitgenommen von der Rede, die er gehalten hatte, und bestimmt ein bisschen von der vergangenen Nacht. Der Banker hatte ergreifende Worte gewählt, um sich von Manfred Engel zu verabschieden. Besonders ein Satz war dem Pater und den meisten Trauergästen zu Herzen gegangen: ›Manfred, ich danke dir für deine Liebe und deine Kameradschaft – wo auch immer du jetzt bist, mach es gut dort‹. Engel waren Tränen in die Augen getreten – ein Anblick, der am Abend im Großformat über alle Sender gehen und in den Gazetten breit und in Farbe ausgeschlachtet werden würde.
Pius schüttelte die Krümel von seiner Kutte und erhob sich mit einem entschuldigenden Kopfnicken, als wolle er nur eben schnell zur Toilette gehen. Er wusste, dass es unhöflich war, sich einfach so aus dem Staub zu machen, aber der Pater hatte weder die Energie noch die Lust, sich auf eine große Abschiedsrunde durch den Saal zu begeben. Mit gesenktem Kopf, als sei er in ein stummes Gebet versunken, bahnte er sich seinen Weg durch die Kaffeetrinker Richtung Ausgang. Doch statt nach links zu den Toiletten abzubiegen, ging er nach rechts, stieß die Eingangstür auf und trat ins Freie. Pius atmete tief die frische, kühle Luft ein. Der feine Nieselregen benetzte sein Gesicht. Dünne Nebelschwaden wogten um seine Nase. Nebel? Moment – Zigarettenrauch!
Unter dem Vordach stand Evelyne Engel, halb verborgen hinter einer mannshohen Konifere, die in einem altbackenen Tontopf ihr Dasein fristete.
»Na, wollen Sie auch ein bisschen frische Luft schnappen?« Evelyne Engel hielt Pius ein Päckchen Marlboro entgegen. Der Pater schüttelte stumm den Kopf.
»Ich weiß, es ist ungesund.« Evelyne Engel zuckte mit den Schultern. »Aber ich brauch das jetzt.«
Pius sah, dass ihre Hände zitterten. Er trat einen Schritt näher. Evelyne klopfte die Asche von der Kippe und blies Rauch in die Luft. Ihr Lippenstift war in den Mundwinkeln ein wenig verschmiert und die Bluse zerknittert. Alles in allem wirkte die Gattin des obersten Landesbankers etwas derangiert, wie sie so an der grob verputzten Hauswand lehnte.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte Pius, mehr aus Pflichtgefühl, denn aus echtem Interesse. Langsam reute es ihn, dass er nicht tatsächlich zu den Toiletten gegangen war, denn ein gewisses Bedürfnis meldete sich langsam, aber dringend an. Als Evelyne Engel ihm antwortete, bereute der Pater es noch mehr, dass er nicht auf dem Klo saß.
»Sie sind doch zum Schweigen verpflichtet?«
Pius nickte ergeben und Evelyne neigte ihm den Kopf zu. Tränen stiegen ihr in die Augen, als sie hastig einen letzten Zug nahm und dann die Zigarette in hohem Bogen auf den Asphalt schnippte.
»Ich … wie soll ich sagen … fühle mich … wie die Witwe«, presste sie hervor.
»Sie sind traurig«, sagte Pius und dachte an seine Blase, die sich von Sekunde zu Sekunde mehr füllte, dem Wirtshauskaffee sei Dank.
»Ja, aber ich trauere nicht um einen Verwandten, nicht nur«, sagte die Engel und wischte sich mit spitzen Fingern unter den Augen herum. Die schwarze Wimperntusche klebte an ihren Fingerkuppen. »Ich habe Manfred geliebt. Anders, als ich ihn hätte lieben sollen.«
Pius schluckte trocken. Sein gequälter Gesichtsausdruck rührte von seinen Eingeweiden her, doch die Engel dachte, sie sei der Grund.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen das so sage. Aber es ist Jahre her, vor unserer Heirat. Jens-Uwe wusste davon, aber er nahm es nicht so wichtig, wir waren ja beinahe noch Kinder. Doch so ganz habe ich nie aufgehört, Manfred zu lieben.« Evelyne
Weitere Kostenlose Bücher