Knigge fuer Individualisten
Schluss. Bei Bedarf wird nachgedeckt.
An Gerätschaften stehen Ihnen bei Tisch zur Verfügung:
große, kleine, flache, tiefe
Teller,
für Suppen Terrinen, Tassen, Schalen und
Gläser,
unterschiedliche Besteckgrößen für
Hauptgänge, Vorspeisen und Dessert,
Sonderbestecke für Fisch, Schalen- und
Krustentiere sowie für Eier und Fischrogen (Kaviarmesser und
-löffel),
Gläser für Getränke aller Art mit und ohne
Alkohol.
Neuere Errungenschaften der Tischkultur sind das
Reagenzglas, aus dem Suppe getrunken wird, der Gourmetlöffel für Saucen und
der Göffel, ein Löffel mit Zinken zum Aufspießen und Auslöffeln. Exklusiv,
aber vom Aussterben bedroht: die Spargelzange, mit der die Spargelstange vom
Teller zum Mund geführt wird.
Oben das einfache, unten
das festliche Gedeck
Der Gebrauch von Besteck, Geschirr und Gläsern ist so
geregelt:
Löffel und Messer werden in der starken,
also meist der rechten Hand gehalten, Gabeln im Prinzip auch; sie
wandern in die linke, wenn die rechte ein Messer hält. Linkshänder
verfahren, wie es für sie am praktischsten ist.
Stellen Sie sich Ihren Teller als
Zifferblatt vor und Messer und Gabel als Uhrzeiger. Legen Sie nun Ihr
Besteck parallel in der Zeigerposition »20 nach 4« ab, heißt das: »Ich
bin mit diesem Gang fertig.« »20 nach 7« bedeutet: Pause. So wissen
Gastgeber und Servicekräfte, ob mit dem Abräumen begonnen werden kann.
Damit kein Gast sich genötigt fühlt, sich zu beeilen, legen die
Gastgeber ihr Besteck erst in dieser Position ab, wenn alle Gäste
fertig sind.
Teller werden möglichst nicht gedreht; was
beim Zerteilen Mühe macht, sollte vorn liegen. Haben Koch oder
Servicekraft das nicht beachtet, sortieren Sie entweder die Speisen
auf dem Teller um – oder drehen den Teller halt doch. Sie brauchen
nicht Regeln um der Regeln willen zu befolgen.
Der Brotteller bleibt an seinem Platz, damit
er beim Servieren der Gerichte nicht im Weg ist.
Sekt-, Wein-, Wassergläser werden am Stiel
gehalten, um den Inhalt vor Wärme zu schützen. Ist das unpraktisch,
fassen Sie das Glas unten am Kelch an. Dann trinken Sie halt so
schnell, dass das Getränk in Ihrer Hand nicht warm wird.
Fazit: Diese quasi »handwerklichen«
Etikette-Empfehlungen beschreiben das Best
Practice und basieren auf rein pragmatischen Aspekten; Raum für
individuelle Spielarten entsteht, wo das, was das Leben erleichtern soll,
zur Last wird. Er wird daher nicht von der Persönlichkeit, sondern vom
praktischen Gebrauch bestimmt sowie vom Zusammenspiel zwischen den Essern
und den Personen, die den Tisch decken und das Essen reichen.
Mitten im Leben: Knigge-Stile
und die Regeln
Spielräume liegen in den Feinheiten. Wer in klassischer Tradition speist, zerteilt
nicht nur Kartoffeln, Klöße und Nudeln mit der Gabel, sondern auch Gemüse,
Carpaccio und Fischfilet. Ja, wirklich. Befolgen Sie selbst die strenge
Regel »Messer nur, wenn nötig«, belächeln Sie auch nicht die US-Amerikaner,
die vom Steak mehrere Stücke abschneiden und diese nach und nach mit der
Gabel in der rechten Hand essen. Als Traditionelle tupfen Sie sich die
Lippen ab, bevor Sie sprechen; vor und nach dem Trinken sowieso. Ihnen käme
nicht in den Sinn, jemandem einen Salzstreuer in die Hand zu drücken: Das
»weiße Gold« wird nicht »verschenkt«; jeder nimmt es selbst vom Tisch auf.
Sie verlassen zum Naseputzen den Tisch. Und ob Sie selbst niesen oder ein
anderer – Störungen sind zu ignorieren, nicht nur beim Essen. Von wegen
»Gesundheit!« Wer in den Code nicht eingeweiht ist, hält Sie für verschroben
oder kühl; Sie könnten gelegentlich die natürliche Karte spielen,
oder?
Natürliche betrachten
Manieren, die auf einer vergessenen Symbolik basieren, als gekünstelt und
glauben nicht, dass das Beherrschen ausgeklügelter Feinheiten den Genuss
steigert. Eine Frau braucht doch keinen Mann, der sie betüdelt! Sie können
sich selbst Wein nachschenken und Ihrem Nachbarn auch. Ihre Natürlichkeit
bringt Sie manchmal in die Bredouille: Sie wollen Ihrem Nachbarn
einschenken, aber nicht in seine private Zone eindringen? Bitten Sie ihn,
sein Glas in Ihre Reichweite zu stellen. Sie wollen im Freundeskreis Ihr
Essen heiß genießen, wenn bei schleppendem Service andere am Tisch noch
nicht bedient sind? Nehmen Sie neben Ihrer eigenen Karte die dynamische in
die Hand und fragen Sie, ob Sie anfangen
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