Knochen-Mond
mich anschaute. Ich trug jetzt einen Knebelbart, der etwas eckig mein Kinn umwuchs. Auch die Haarfarbe war eine andere geworden. Dunkel, beinahe glänzend. Die Pupillen glichen der Farbe. Ich war kleiner als sonst, aber etwas breiter in den Schultern. Um die Lippen herum lag ein etwas spöttischer Zug, so kannte ich ihn von Hector de Valois, so hatte ich ihn auf meinen Zeitreisen erlebt, wo ich ihm als John Sinclair gegenüberstand und er mir als er selbst.
Wie war so etwas möglich gewesen?
Eigentlich ganz einfach. Mein zweites Ich hatte sich gelöst und war mit Hector de Valois zusammengekommen. Es hatte seinen Geist gefunden, es war in die oberen feinstofflichen Ebenen hineingedrungen und hatte sich später in dieser Traumwelt materialisiert. Denn nichts ging verloren. Auch wenn ein Mensch starb, war er noch vorhanden. Mochte der Körper vergehen, der Geist aber blieb.
Es fiel mir nicht leicht, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen, obwohl ich keine Furcht spürte. In mir steckte vielmehr das Gefühl der Spannung. Ich wartete darauf, wie es wohl weitergehen würde und wie ich als Hector de Valois reagierte.
Mein Mund verzog sich zu einem spöttisch-kantigen Lächeln, als ich das Spiegelbild grüßte und dabei sagte: »Willkommen in der Welt der Träumer, mein Freund.«
Ich lauschte meiner Stimme nach.
Klang sie fremd? Ein wenig schon, aber sie war doch irgendwo meine eigene.
Ich schluckte. An Überraschungen konnte ich mich wirklich nicht beklagen. Erst vor einigen Monaten war ich durch Magie zu einem Greis geworden, und jetzt steckte mein zweites Ich in einer längst verstorbenen Person.
Eigentlich kam ich mir vor wie verkleidet. Ich dachte ja noch wie John Sinclair, mußte aber in Kauf nehmen, daß mir aus dem Spiegel ein anderer entgegenschaute.
Ein verrücktes Leben!
Ich trat vom Spiegel weg und erinnerte mich daran, daß ich aus dem Fenster schauen wollte. Schon bei meiner Ankunft war ich davon ausgegangen, mich innerhalb eines hohen Gebäudes zu befinden, eines Schlosses oder einer Burg. Ob das stimmte, wollte ich genau wissen. Das Fenster bestand aus dickem Bleiglas. Als ich hinausschaute und nach unten blickte, war so gut wie nichts zu erkennen. Nur dichte Schatten, die sich bewegten.
Einen Griff oder Schubriegel entdeckte ich leider nicht. So mußte das Fenster geschlossen bleiben. Aber es gab eine Tür. Auch sehr hoch, bestehend aus einer dicken Holzplatte, durch Schnitzereien aufgelockert, die so etwas wie kleine, quadratische Sprossenfenster andeuteten.
Über die knarrenden Bohlen, deren Geräusche sich anhörten wie das Stöhnen gequälter Seelen, schritt ich auf die Tür zu. Ich zog sie auf. Bei dieser Handlung zog ich auch die Beretta, denn innerhalb dieses Baus mußte ich mich auf Überraschungen gefaßt machen. Vor mir lag ein breiter Gang, wie er tatsächlich zu einem Schloß paßte. Er war völlig leer. Es hingen nicht einmal Gemälde an den Wänden, kein Teppich bedeckte den Boden, nicht eine Rüstung markierte meinen Weg, ich sah nur das Ende des Ganges, das dort lag, wo die erste Stufe der nach unten führenden Treppe begann.
Zwei Kandelaber gaben ihr schwaches Licht ab, das über den Boden und die Wände floß. Wenn ich ging, huschte mein Schatten geisterhaft über die Wände.
Je näher ich der Treppe kam, um so mehr verstärkte sich die Unruhe in meinem Innern. Es mochte an den Geräuschen liegen, die aus der Tiefe hochklangen.
Ich hörte Stimmen, mal einen dumpfen Fall, hin und wieder ein Lachen oder auch Stöhnen.
Meine Füße hinterließen auf den Stufen dumpfe Geräusche. Schon bald hatten mich die Schatten der Dunkelheit eingefangen. Orientieren konnte ich mich allein anhand der von unten hochdringenden Geräusche und eines sehr schwachen Lichtschimmers, der mich kaum erreichte und unterwegs verschluckt wurde.
Es war schwer für mich, an eine Traumwelt zu glauben, in der ich mich letztendlich befand. Alles wirkte so erschreckend real und nicht wie das, was durch die Träume der Schlafenden aufgebaut wurde. Fin jeder, der träumte, fand sich auch in dieser Welt wieder. Irgendwo hingen sie alle zusammen, damit sich der Kreis schließen konnte.
Ich mußte achtgeben, denn die Finsternis war einfach zu dicht. Manchmal hatte ich den Eindruck, keine Stufe mehr zu berühren, sondern ins Leere zu treten. Zum Glück gab es keinen Zwischenraum, ich fand immer wieder den nötigen Halt.
Es gab auch ein Geländer, das einen sehr breiten Handlauf aufwies. Daran hielt ich mich
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