Knochenarbeit: 2. Fall mit Tempe Brennan
herumsegeln. Wenn sie es sich anders überlegt hat, sollte sie mir zumindest Bescheid sagen.«
Wie immer stieg Ärger über die Gedankenlosigkeit meiner Schwester in mir hoch.
»Sie wird sich schon melden, Kit. Als ich wegfuhr, war sie ziemlich mit ihrem Workshop beschäftigt. Du weißt doch, wie deine Mutter ist.«
»Ja.« Er hielt inne. »Aber das ist es ja gerade. Sie klang so…«, er suchte nach dem richtigen Wort, »… tonlos. Gar nicht wie Harry.«
Ich erinnerte mich an meinen letzten Abend mit Harry.
»Vielleicht ist das ein Teil ihrer neuen Persönlichkeit. Eine wunderbare Gelassenheit.« Das klang sogar in meinen Ohren falsch.
»Ja. Vielleicht. Hat sie gesagt, daß sie irgendwo hinfährt?«
»Nein. Warum?«
»Etwas, das sie sagte, brachte mich auf den Gedanken, daß sie vielleicht eine Reise plant. Aber irgendwie so, als wäre es nicht ihre Idee oder als wollte sie gar nicht. Ach verdammt, ich weiß auch nicht.«
Er seufzte auf. Ich stellte mir vor, wie mein Neffe sich durch die Haare fuhr und sich dann den Scheitel kratzte. Was er immer tat, wenn er frustriert war.
»Was hat sie denn gesagt?« Trotz meines Entschlusses bekam nun ich es auch mit der Angst zu tun.
»Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, aber eins habe ich mir gemerkt. Es sei unwichtig, was sie anzieht oder wie sie aussieht. Klingt das nach meiner Mutter?«
Nein, das tat es nicht.
»Tante Tempe, weißt du irgendwas über den Laden, mit dem sie sich da eingelassen hat?«
»Nur den Namen. Inner Life Empowerment, glaube ich. Würde es dich beruhigen, wenn ich ein paar Nachforschungen anstelle?«
»Ja.«
»Und ich rufe meine Nachbarn in Montreal an und frage sie, ob sie sie gesehen habe. Okay?«
»Ja.«
»Kit? Weißt du noch, als sie Striker kennenlernte?«
Eine Pause. Dann: »Ja.«
»Was ist da passiert?«
»Sie war vier Tage lang verschwunden und ist dann verheiratet wieder aufgekreuzt.«
»Weißt du noch, wie durchgedreht du damals warst?«
»Schon. Aber damals hat sie ihren Lockenstab nicht zurückgelassen. Sie soll mich einfach anrufen. Ich habe ihr oben bei dir eine Nachricht aufs Band gesprochen, aber, mein Gott, vielleicht ist sie ja sauer wegen irgendwas. Wer weiß?«
Ich legte auf und sah auf die Uhr. Viertel nach zwölf. Ich versuchte es in Montreal. Harry meldete sich nicht, also hinterließ ich ihr noch eine Nachricht. Dann lag ich im Dunkeln und nahm mich selber ins Kreuzverhör.
Warum hatte ich dieses Inner Life Empowerment nicht überprüft?
Weil es keinen Grund dafür gegeben hatte. Sie hatte den Kurs über eine seriöse Institution gebucht, also gab es keinen Anlaß für Besorgnis. Außerdem wäre es ein Vollzeitjob, wollte man jedem von Harrys Plänen auf den Grund gehen.
Morgen. Morgen würde ich einige Leute anrufen. Heute nacht nicht mehr. Ich beendete das Verhör.
Dann ging ich nach oben, zog mich aus und schlüpfte unter die Decke. Ich brauchte Schlaf. Ich brauchte eine Pause von dem Aufruhr, der mein waches Denken beherrschte.
Der Deckenventilator summte leise. Ich dachte an Dom Owens’ Wohnzimmer, und obwohl ich dagegen ankämpfte, kamen mir die Namen wieder ins Bewußtsein.
Brian. Heidi. Brian und Heidi waren Studenten.
Jennifer Cannon war Studentin.
Anna Goyette.
Mir drehte sich der Magen um.
Harry.
Harry hatte sich für ihr erstes Seminar am North Harris County Community College eingeschrieben. Harry war ebenfalls Studentin.
Die anderen waren in Quebec gewesen, als sie getötet wurden oder verschwanden.
Meine Schwester war in Quebec.
Oder nicht mehr?
Wo zum Teufel war nur Ryan?
Als er endlich anrief, wurde aus meiner Beklommenheit nackte Angst.
28
»Verschwunden? Was soll das heißen, verschwunden?«
Ich hatte unruhig geschlafen, und als Ryan mich bei Tagesanbruch weckte, hatte ich Kopfschmerzen und fühlte mich ganz und gar nicht auf der Höhe.
»Als wir mit dem Durchsuchungsbefehl ankamen, war das Anwesen verlassen.«
»Sechsundzwanzig Leute haben sich einfach in Luft aufgelöst?«
»Owens und eine Begleiterin haben gestern früh gegen sieben die Transporter aufgetankt. Der Tankwart erinnerte sich daran, weil es eine ungewöhnliche Zeit für sie war. Baker und ich kamen gegen fünf Uhr nachmittags bei der Kommune an. Irgendwann dazwischen sind der Padre samt Schäfchen verduftet. Baker hat eine Suchmeldung rausgegeben, aber bis jetzt wurden die Transporter noch nirgends gesehen.«
»Um Gottes willen.« Ich konnte es einfach nicht glauben.
»Es kommt noch
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