Knochenbett: Kay Scarpettas 20. Fall (German Edition)
investigative Pathologie? Waren Sie jemals bei einer dieser Sitzungen?«
»Ja.«
»Das ist doch dieselbe Vereinigung, oder?«
»Im Großen und Ganzen.«
»Ich verstehe. Wenn sich der Name ändert, ändert sich also Ihre Antwort.«
»Die Amerikanische Gesellschaft für experimentelle Pathologie gibt es nicht mehr. Ich war nie bei einer ihrer Sitzungen oder hatte Kontakt mit ihr. Inzwischen heißt sie Amerikanische Gesellschaft für investigative Pathologie.«
»Sind Sie Mitglied der Amerikanischen Gesellschaft für investigative Pathologie, kurz ASIP , Dr. Scarpetta?«
»Ja.«
»Also ist es eine Tatsache, dass Sie sich mit experimenteller Medizin beschäftigen, ganz gleich, wie diese Vereinigung nun heißen mag?«
» ASIP erforscht die funktionellen Abläufe von Erkrankungen.«
Schweigen. Ich betrachte die Gesichter der Geschworenen. Sie sind aufmerksam, trauen mir aber nicht ganz über den Weg. Ein älterer Mann mit kurzem grauem Haar und dickem Bauch wirkt interessiert, jedoch ratlos. Jill Donoghue trübt das Wasser mit der Tinte der Verwirrung, macht negative Andeutungen und verteilt hinterhältige Seitenhiebe, ich sei daran gewöhnt, mich vom Steuerzahler aushalten zu lassen. Darüber hinaus sei ich rücksichtslos, grausam, eine Heuchlerin und außerdem vermutlich eine Männerhasserin.
Pinselstrich für Pinselstrich porträtiert sie mich als menschenfeindliche Wissenschaftlerin und verabscheuungswürde Person, um meine Glaubwürdigkeit zu untergraben, bis sie auf die wirklich wichtigen Fragen zu sprechen kommt. Sie werden mich unsympathisch finden, ja, vielleicht sogar hassen.
»Und für welche Fälle ist das AFME dann genau zuständig, Dr. Scarpetta?«, fragt sie. Noch nie habe ich mich so schutzlos gefühlt.
Es ist, als sei die Staatsanwaltschaft nicht vorhanden. Dan Steward sieht tatenlos zu, wie ich zur Schlachtbank geführt werde, ohne auch nur ein einziges Mal Einspruch zu erheben.
»Jeder Tod eines Soldaten, der im Einsatz erfolgt«, erwidere ich.
»Einsatz? Vielleicht könnten Sie uns erläutern, was Sie damit meinen.«
»Unter einem Kampfeinsatz versteht man eine Gefechtssituation, zum Beispiel in Afghanistan«, erkläre ich den Geschworenen. »Weiterhin ist das AFME auch für Todesfälle in militärischen Einrichtungen sowie für den Tod des Präsidenten der Vereinigten Staaten, des Vizepräsidenten und sämtlicher Kabinettsmitglieder zuständig, ebenso wie für bestimmte andere Staatsbedienstete, zum Beispiel Mitarbeiter der CIA oder unsere Astronauten, sollten sie in Ausübung ihrer Pflicht ums Leben kommen.«
»Ein beachtliches Aufgabengebiet.« Donoghue schlägt einen nachdenklichen Ton an.
Man könnte fast meinen, dass sie beeindruckt ist. Ich sehe weiter die Geschworenen an und würdige die Verteidigerin keines Blickes.
»Nun verstehe ich, was Sie auf den Gedanken gebracht haben könnte, dass Ihr Beruf wichtiger ist als meiner, der der Geschworenen oder sogar der des Richters«, verkündet sie.
Achtzehn
Sie hält inne, während einige der Zuschauer in Gelächter ausbrechen. Allerdings sind die Geschworenen ganz und gar nicht amüsiert. Kein Einziger von ihnen.
»Daran habe ich nie auch nur im Traum gedacht«, entgegne ich.
»Nun, Sie sind eine Stunde und fünfzehn Minuten zu spät gekommen, Dr. Scarpetta. Wenn Sie die Zeit mitrechnen, die Richter Conry gebraucht hat, um Sie zurechtzuweisen, sind es anderthalb Stunden, was heißt, dass die Verhandlung Ihretwegen erst nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen werden kann.«
»Ich muss mich noch einmal dafür entschuldigen, Ms. Donoghue. Es war niemals meine Absicht, das Gericht zu missachten. Ich war mit einem Boot unterwegs, weil der Fundort einer Leiche meine Aufmerksamkeit erforderte.«
»Bedeutet das, dass die Toten Ihnen wichtiger sind als die Lebenden?«
»Diese Annahme ist nicht richtig. Das Leben kommt immer vor dem Tod.«
»Aber Sie arbeiten mit den Toten, richtig? Ihre Patienten sind Verstorbene.«
»Als Rechtsmedizinerin«, antworte ich langsam und ruhig, da ich mir schon denken kann, worauf sie hinauswill, »ist es mein Beruf, plötzliche, unerwartete oder gewaltsame Todesfälle zu untersuchen und zu ergründen, warum und auf welche Weise der Betroffene gestorben ist. In anderen Worten, was hat den Menschen umgebracht? War es ein Unfall, ein Selbstmord, ein Mord? Also, ja. Die meisten Menschen, die ich untersuche, sind tot.«
»Nun, das kann man nur hoffen.«
Wieder Gelächter. Doch die Geschworenen sind
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