Knochenbrecher (German Edition)
sie die Frage barsch zurück.
»Wann haben Sie Ihre Schwester zuletzt gesehen?«, fragte Greven, während er versuchte, möglichst unauffällig seiner Lage zu entkommen.
»Vor etwa dreißig Jahren. Genau kann ich Ihnen das nicht sagen«, antwortete die Heilerin widerwillig.
»Wie ist es zu dem Zerwürfnis zwischen Ihnen gekommen?« Greven saß schon fast.
»Nur ich habe die Kraft von unserem Vater geerbt. Nur ich. Und trotzdem wollte auch sie heilen. Ein paar Wirbel einrenken. Was hat das mit heilenden Kräften zu tun? Nichts. Rein gar nichts. Sie oder ich. Das habe ich ihr oft genug gesagt. Immer nur einer erbt die Kraft. So ist es in unserer Familie seit Generationen gewesen. Vor dreißig Jahren habe ich die Kraft in mir entdeckt …«
»Als Ihre Schwester schon in Greetsiel als Heilerin gearbeitet hat«, unterbrach Greven sie.
»Aber ich hatte die Kraft bekommen, verstehen Sie, ich hatte die Kraft, nicht Hedda. Sie wollte es einfach nicht wahrhaben und hat trotzdem geheilt. Dabei hat sie die Kraft gar nicht geerbt. Wie konnte sie also heilen?«
»Sagen Sie es mir!«
»Gar nicht, natürlich. Ohne die Kraft kann man nicht heilen. Ein Quacksalber war sie, weiter nichts. Ein billiger Quacksalber, der die Leute ausgenommen hat.«
»Sie waren also in den vergangenen dreißig Jahren nicht einmal bei ihr?« Seine Schuhe berührten den Teppich. Er saß.
»Ich war nicht einmal in ihrer Nähe, nicht mal in Leybuchtpolder, geschweige denn in Greetsiel«, versicherte Almuth Bogena und fixierte Greven mit ihren blauen Augen, die denen ihrer toten Schwester auf so unheimliche Weise glichen.
»Wer wird diese … Kraft einmal erben?«
»Mein Sohn«, antwortete die alte Frau selbstbewusst. »Noch hat er sie nicht bei sich entdeckt. Aber ich musste auch erst dreißig werden. Eines Tages wird er es merken. Glauben Sie mir.«
»Wo lebt Ihr Sohn?«
»In Norden. Er ist Sportlehrer am Gymnasium. Noch. Dieses Zimmer steht jederzeit für ihn bereit. Jederzeit.«
»Er heißt auch Bogena?«
»Klaus Bogena. Ich war nie verheiratet, falls Sie darauf anspielen.«
»Hat Ihr Sohn Hedda mal in Greetsiel besucht?«
»Das müssen Sie ihn schon selbst fragen. Ich habe ihm immer davon abgeraten. Noch eine Frage? Meine Zeit wird knapp.«
»Nein, das hat mir erst einmal gereicht. Aber wahrscheinlich komme ich noch mal wieder. Oder einer meiner Mitarbeiter.«
»Vergessen Sie die Sache. Den Mörder finden Sie sowieso nicht«, sagte Frau Bogena nüchtern.
»Woher wollen Sie das denn wissen?«, fragte Greven erstaunt und erhob sich.
»Das sagt mir die Kraft. Die Behandlung macht dreißig, der Ring fünfundzwanzig.«
Auf dem Weg zum Auto, das er auf dem Marktplatz unterhalb des Störtebekerturms geparkt hatte, achtete er bewusst auf sein Knie. Er spürte keinerlei Schmerz. Allerdings hatte er auf dem Hinweg auch keinen Schmerz wahrgenommen. Während der Fahrt tauchten noch einmal die blauen Augen vor ihm auf, wobei er nicht wusste, ob es Heddas oder Almuths waren. Augen, die mehr sahen als andere, dessen war er sich sicher. Augen, die kaum ein Psychologe oder Detektiv besaß, die offenbar winzige Details blitzschnell erfassen und analysieren konnten. Wenn sie darüber hinaus noch eine Kraft besaßen, war es die der Suggestion. Als Täterin kam Almuth nicht in Frage, dank ihres Alters und ihrer Figur schied sie zweifelsfrei aus. Das Rennen am Deich hätte sonst er gewonnen.
Auf dem Gang überlegte Greven, wie er nun seine Mitarbeiter am besten einsetzen konnte. Doch das hing von den Ergebnissen der noch ausstehenden Berichte und Ackermanns Fahrt nach Greetsiel ab. Er hoffte, wenigstens den Fall Bogena schnell zu lösen, um sich dann wieder auf die beiden harten Brocken konzentrieren zu können, in denen er seit Wochen feststeckte.
Vor der Kantine kam ihm Pütthus entgegen, der ihn kurz taxierte und plötzlich vor ihm in die Knie ging. Greven fiel zum zweiten Mal an diesem Tag aus seinen Gedanken. Mit verstellter Stimme, mutierter Mimik und gebückter Haltung hüpfte Pütthus auf ihn zu und packte den Messingring, den Greven achtlos in der Hand hielt: »Unser Schatz. Endlich haben wir ihn wieder. So lange haben wir auf ihn verzichten müssen. Jetzt ist er wieder bei uns. Gib ihn uns, Frodo, es ist unser Geschenk. Du darfst ihn nicht vernichten!«
Greven schüttelte den Kopf und überließ den Ring Gollum, der mit seinem Schatz in der Kantine verschwand, aus der gleich darauf ein schallendes Gelächter zu hören war. Während der
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