Knochenerbe
zog die Karte aus dem Umschlag und sah sie sich an. Vorne drauf prangte das Konterfei eines Mannes mit Kochmütze, Grillschürze und langer Gabel. „Hier brät was Feines!“, verkündete der gedruckte Text. Öffnete man die Karte, stand dort zu: „Und Sie dürfen mitschmausen! Mittwoch, sieben Uhr, bei Marcia und Torrance. Bis dann!“
„Ein bisschen deftig, nicht wahr?“ Ich bemühte mich um einen möglichst neutralen Tonfall, wollte ich doch nicht völlig herzlos erscheinen.
„Ich bin sicher, dass ich Zeit habe, aber ich schau gern noch mal nach.“ Aubrey zog ein kleines schwarzes Notizbuch aus der Tasche. „Der liturgische Kalender“, erläuterte er. „Ich glaube, es gibt kaum einen episkopalischen Priester, der ihn nicht bei sich trägt.“ Er blätterte kurz in den Seiten, ehe er mich anstrahlte. „Ich habe Zeit!“ Meine Reaktion war ein Seufzer der Erleichterung. Aubrey zauberte einen winzigen Bleistift aus der Tasche, der sich in einem beklagenswerten Zustand befand, und notierte Zeit und Adresse. Dann schrieb er zu meiner Belustigung noch „Aurora abholen“ dazu. Was denn – würde er mich sonst womöglich vergessen?
Er stand auf und stopfte Büchlein und Stift wieder in die Tasche. „Ich muss los“, sagte er nach einem Blick auf die Uhr. „In einer Stunde trifft sich die Jugendgruppe.“
„Was machst du mit denen?“, wollte ich wissen, während ich ihn zur Tür brachte.
„Hauptsächlich sorge ich dafür, dass sie sich nicht allzu sehr grämen, keine Baptisten mit riesengroßem Freizeitzentrum zu sein. Wir haben uns mit den Presbyterianern und Lutheranern zusammengetan und kümmern uns reihum an den Sonntagabenden um die jungen Leute. Heute ist meine Kirche dran.“
Wie gut, dass unsere Beziehung noch so jung war und ich mich nicht verpflichtet fühlte, ihn bei dieser Aktivität zu unterstützen.
Aubrey hatte die Tür schon geöffnet, als ihm einzufallen schien, dass er etwas vergessen hatte. Er legte mir den Arm locker um die Schulter und beugte sich vor, um mich zu küssen. Diesmal konnte kein Zweifel bestehen: Ein Blitz schoss mir bis in die Zehenspitzen. Auch Aubrey wirkte wie unter Strom, als er sich von mir löste.
„Gut!“, sagte er atemlos. „Ich rufe dich im Laufe der Woche an und ich freue mich auf Mittwoch.“
„Ich mich auch!“, entgegnete ich lächelnd. Über seine Schultern hinweg sah ich, wie sich im Haus auf der anderen Straßenseite ein Vorhang bewegte.
„Ha!“, dachte ich höchst erwachsen, als ich die Tür hinter meinem Besucher zuschlug.
Kapitel Acht
Der Montag entpuppte sich als ein viel geschäftigerer Tag, als ich erwartet hatte. Als ich am Morgen meine geplante Vierstundenschicht antreten wollte, erfuhr ich, dass eine meiner Kolleginnen an einer Sommergrippe erkrankt war, was wohl, wie ich den vom weisen Nicken aller anderen Kollegen begleiteten Kommentaren entnehmen durfte, die schlimmste Grippe war, die einen erwischen konnte. Ich persönlich fand ja, jede Grippe sei die schlimmste, aber egal. Sam Clerrick, unser Chef, bat mich, nachmittags eine weitere Vierstundenschicht dranzuhängen, und nach kurzem Zögern willigte ich ein. Dabei kam ich mir ungeheuer großzügig vor, lag es doch jetzt im Rahmen meiner finanziellen Möglichkeiten (na ja: fast im Rahmen derselben!), meine Arbeit ganz hinzuschmeißen, wenn mir danach war. Nichts brachte einen so in Schwung wie eine gehörige Portion Eigenlob: Ich arbeitete den ganzen Vormittag fröhlich vor mich hin, las einer Gruppe Vorschulkinder vor und beantwortete jede Menge Fragen.
Von so vielen guten Taten beflügelt, fühlte ich mich berechtigt, meine Kaffeepause ein wenig auszudehnen und für ein Telefonat mit der Telefongesellschaft zu nutzen. Ich wollte wissen, ob es möglich war, zumindest für eine gewisse Zeit meine Nummer zu Hause auch für Janes Haus zu vergeben. Selbst wenn das nicht möglich sein sollte, wollte ich bitten, das Telefon in Janes Haus wieder anzuschließen. Ich hatte Glück: Man versicherte, mir es sei möglich, mich in beiden Häusern unter derselben Nummer anrufen zu lassen und sagte mir zu, entsprechende Vorkehrungen innerhalb der nächsten beiden Tage zu treffen.
Ich hatte gerade aufgelegt, als Lillian Schmidt in den Pausenraum kam. Lillian gehörte zu dieser speziellen Gruppe unangenehmer Personen, die irgendwo auch ihre guten Seiten hatten, weswegen man sie nicht endgültig abschreiben konnte, auch wenn man es sich von ganzem Herzen wünschte. Da ich mit ihr
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