Knochenfinder
nicht zuordnen. Dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Faustschlag und presste einen weiteren Schrei aus ihm heraus. Sofort drückte sich eine schwere Hand auf seinen Mund und verschloss ihn, sodass er nur noch gedämpft knurren konnte. Er warf den Kopf hin und her, weil er auf keinen Fall wieder geknebelt werden wollte. Blitzlichter leuchteten vor seinem inneren Auge auf: Er sah wieder die Spritze und das Messer. Und Blut. Sein Blut.
Die Hand hielt seinen Kopf starr geradeaus; kräftige Oberschenkel klemmten ihn ein wie ein Schraubstock.
»Jetzt hör mir mal zu, Bürschchen. Kannst du mich hören? Verstehst du, was ich sage?« Die Stimme wurde mit jedem Satz schriller.
Er wollte nicken, aber es ging nicht. Also wimmerte er. Die Stimme kam näher, damit auch der Atem. Er roch nach Zwiebeln und Bier.
»Du wirst, verdammt noch mal, etwas essen! Ich lasse es nicht zu, dass du krepierst. Du sollst am Leben bleiben, hörst du? Wenn du die Nahrung verweigerst, nehme ich mir auch die restlichen Finger vor. Ist das klar?«
In Panik riss er die Augen auf und blickte wieder direkt in die Taschenlampe. Sein Kopf schmerzte so entsetzlich, dass er leise wimmerte. Unwillkürlich zuckten seine Beine; es verstärkte nur den Schmerz in den gefesselten Gliedern. Er unterdrückte den aufkommenden Schrei.
»Ich habe noch eine bessere Idee: Falls du nicht spurst, ist dein nutzloser Schwanz an der Reihe.« Ein fester Griff zwischen die Beine. »Iss, oder ich schneide dir deinen Schwanz ab, sodass du nicht einmal mehr pinkeln kannst.« Der Mann ließ ihn plötzlich los, nahm auch die starke, schwere Hand von seinem Mund.
Er japste nach Luft, keuchte verzweifelt. Sofort wurde ihm etwas in den Mund geschoben. Reflexartig wollte er es ausspucken, doch im letzten Moment unterdrückte er den Würgeimpuls.
Ganz langsam und vorsichtig kaute er. Es fühlte sich an wie Fleisch. Er spürte, wie seine Zähne das Gewebe zerdrückten, und schmeckte einen leichten Hauch von Gebratenem. Er kaute, aber das Fleischstück schien nicht kleiner zu werden. Seine Gedanken jagten durcheinander. Er dachte an den Wahnsinn und die Grausamkeit seines Peinigers. Hoffentlich stammte das Fleisch von einem Tier. O Gott, er musste seine Gedanken im Zaum halten, sonst würde er noch durchdrehen. Angeekelt schob er den dicken Klumpen von einer Seite zur anderen, unfähig, ihn herunterzuschlucken.
»Schluck!«
Mit einem enormen Aufwand an Kraft und Überwindung versuchte er, die zähe Masse herunterzuwürgen. Sein Magen rebellierte. Er spürte den sauren Geschmack der aufkommenden Magensäure. Er schluckte mühselig. Magensäure und Fleisch vermischten sich zu einem brennenden Klumpen. Beißende Tränen liefen ihm über das Gesicht, rannen in die rechte Ohrmuschel. Er kaute und hoffte inständig, dass es nicht menschliches Fleisch war.
Kapitel 32
Winterberg parkte den Wagen auf dem Wanderparkplatz und ging mit Natascha zusammen zu dem abgesperrten Bereich. Polizisten in weißen Schutzanzügen suchten das Waldstück ab, förderten Bonbonpapiere, zwei Bierflaschen, eine Limonadendose und mehrere zerknüllte Taschentücher zutage. Es gab unzählige Spuren von Hunden, Hasen und Rehen, und die überall verteilten Ziffernschilder ließen das Ganze wie ein modernes Kunstwerk erscheinen. Der Bus der Kriminaltechniker stand am Rande des eingegrenzten Bezirks, durch die offene Tür konnte man Utensilienkoffer sehen.
Winterberg stellte sich neben das im Wind flatternde Absperrband. Die Szene dahinter wirkte wie ein Theaterstück auf der Bühne, mit dem er nichts zu tun hatte. Hier war er vorerst nur Zuschauer, und er wünschte sich einen kurzen Moment lang, zu den wenigen Schaulustigen gehören zu können, die neben ihm standen. Dann würde er am Abend nach Hause fahren, seiner Frau von den Aufregungen am Nachmittag berichten und sich mit einem reinen Gewissen ins Bett legen. Doch darauf musste er vorerst verzichten.
»Ich frag die Kollegen der Kriminaltechnik, was die bisher gefunden haben.« Natascha stieß ihn leicht in die Seite. »Kommst du mit? Du siehst so nachdenklich aus.«
»Ich frage mich, warum sich der Täter die Mühe macht, die Finger in solch einem großen Radius zu verstecken. Wir wissen, dass es unzählige Geocaches hier in der Gegend gibt. Warum liegen die Verstecke nicht näher beieinander? Wir sind eine halbe Stunde lang über Höhenwege und marode Kreisstraßen gefahren, um hier oben anzukommen. In der Nähe gibt es nicht viel mehr als eine
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