Knochenfunde
Intelligenz, die Gefühle, die sich hinter seinem fast ausdrucks-losen Gesicht verbargen.
»Ich habe keine Milch mitgebracht«, sagte Nathan. »Sie trinken Ihren Kaffee doch schwarz, nicht wahr?«
»Wie bitte?« Schnell nahm sie die Tasse, die Nathan auf ihrem Arbeitstisch abgestellt hatte. »Ja, ich trinke ihn schwarz.«
Sie hörte, wie Joe die Tür am oberen Treppenabsatz schloss.
»Dachte ich mir doch, dass ich das richtig in Erinnerung hatte.«
»Alles in Ordnung.« Ja, jetzt war alles in Ordnung. Joe war weg.
Sie konnte ungestört arbeiten.
Sie richtete ihren Blick wieder auf Victor. Verdammt, sie musste sich konzentrieren.
»Gehen Sie ins Bett«, forderte Eve Nathan auf. »Es ist fast Mitternacht, und Sie sitzen schon den ganzen Tag hier.«
»Wenn Sie Feierabend machen, gehe ich auch schlafen. Ich störe Sie doch nicht, oder?«
»Nein, Sie sind sehr zurückhaltend.« Eve nahm ihre Brille ab und rieb sich die Augen. »Aber es ist Unsinn, mich hier bewachen zu wollen. Ich bekomme ja schon jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich Sie ansehe.«
Nathan deutete ein Lächeln an. »So wie Sie in Ihre Arbeit vertieft sind, haben Sie mich doch seit sechs Stunden überhaupt nicht wahrgenommen. Wie läuft’s denn?«
»Ganz gut.« Eve schaute Victor an. »Allmählich bekommt er ein Gesicht.«
»Sie sind ja ganz aufgeregt. Werden Sie heute Nacht fertig?«
»Das würde ich gerne, aber ich bin zu müde. Ich sollte Schluss machen für heute.« Liebevoll streichelte sie den Schädel. »Aber ich bin so nah dran, verdammt.«
»Darf ich ihn ansehen?«
»Nein, Sie würden noch nichts erkennen. Erst im letzten Stadium zeigen sich die eigentlichen Gesichtszüge.« Sie wischte ihre Hände an einem Lappen ab. »Aber morgen Abend wird es so weit sein.«
»Gut.« Nathan betrachtete Victors Hinterkopf. »Warum sind die-se letzten Stunden so wichtig?«
»Weil ich mich dann auf meinen Instinkt verlassen muss. Es ist, als würde das Gesicht, das ich rekonstruiere, mich leiten, als würde es mir sagen, was ich tun muss.« Sie verzog das Gesicht. »Seltsam, nicht?«
Nathan zuckte die Achseln. »Ich hab schon verrücktere Ge-
schichten gehört. Der ganze Prozess ist mir ein Rätsel. Ich verstehe nicht, wie Sie das machen.«
Eve lächelte. »Vor allem muss man mit Leib und Seele bei der
Sache sein. Dann ist es ganz einfach.«
»Klar. Deswegen arbeiten Sie sich ja auch dumm und dusselig.
Weil es ganz einfach ist.«
»Kein Beruf ist leicht, wenn man wirklich gut sein will.
Sie sind doch auch von Ihrer Arbeit besessen, sonst würden Sie nicht versuchen, den Pulitzerpreis zu bekommen.«
»Das ist der Gipfel einer Journalistenkarriere. Ich wollte nie etwas anderes sein als Journalist. Vielleicht schreibe ich irgendwann auch mal ein Buch oder zwei. Ich bin ein einfaches Gemüt.«
»Ja, sicher.«
»Sie dagegen haben sich für einen Beruf entschieden, der besten-falls als makaber gilt.«
»Alle meinten, nach dem Mord an Bonnie würde ich mit Toten
nichts mehr zu schaffen haben wollen. Aber man tut, was einen an-treibt.« Sie warf noch einen letzten Blick auf Victor. »Und mich treibt es jetzt ins Bett, damit ich morgen frühzeitig aufstehen kann.«
»Um wie viel Uhr?« Nathan stand auf. »Ich möchte den großen
Augenblick nicht verpassen.«
»Wann immer ich aufwache. Aber ich werde noch ein paar Stun-
den an ihm arbeiten müssen.«
»Ich werde um sechs zur Stelle sein.« Nathan ging auf die Treppe zu. Dann drehte er sich noch einmal um und schaute Victor an. »Sind Sie sicher, dass ich ihn jetzt noch nicht erkennen würde?«
»Ganz sicher.« Eve folgte ihm die Treppe hinauf. »Und jetzt vergessen Sie ihn und gehen Sie schlafen.«
»Haben Sie von Galen gehört?«
Eve schüttelte den Kopf. »Aber er ist ja erst zwei Tage fort. Er wird sich schon melden, wenn er etwas in Erfahrung gebracht hat.«
Sie schaltete das Licht in der Spülküche aus. »Und morgen, wenn ich mit Victor fertig bin, rufen wir ihn sowieso an.«
Sie warf einen letzten Blick auf die dunklen Umrisse des Schä-
dels auf dem Arbeitstisch.
Wir haben’s fast geschafft, Victor. Bald wirst du zu Hause sein.
Boca Raton, Florida
23. Oktober
»Es ist die reine Zeitverschwendung«, sagte Jennings zu Rusk am Telefon. »Ich habe mit den Agenten in unserem Büro in Miami gesprochen, und es gibt nicht den leisesten Hinweis darauf, dass sich hier irgendwas abspielt außer Drogenhandel, Betrügereien und
Geldwäscherei. Ich glaube, ich werde mit der
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