Knochengrube: Mystery-Thriller (German Edition)
mich verzweifelt bemühe, der Bestie zu entkommen? Einst sagte der Sultan mir, das Spiel dauere nie lange genug, um seine Mahlzeit zu beenden.
Beth konnte kaum glauben, was sie da las. Es schien ihr, als handele es sich um einen lebensechten Bericht über Theseus und den Minotaurus. Mühsam kratzte sie ihre Erinnerung an diesen Mythos zusammen. Nach ihrer Niederlage gegen den König Minos wurden die Athener gezwungen, alle neun Jahre einen schrecklichen Tribut zu zahlen. Man verlangte von ihnen, eine Gruppe junger Männer und Frauen, jeweils sieben, wenn sie sich recht entsann, nach Kreta zu schicken, wo sie dem gefürchteten Minotaurus zum Fraß vorgeworfen wurden. Minotaurus, halb Mensch, halb Stier, lebte in einem Labyrinth, aus dem es kein Entkommen gab. Hatte der Sultan Kilij al-Kalli seinen eigenen Irrgarten diesem legendären Vorbild nachempfunden? Und was war das für eine Bestie, die in ihrem eigenen tödlichen Labyrinth herumgeisterte und jagte? Ein Minotaurus, so wusste sie, war es nicht; das war nichts als ein Mythos. Aber was für ein Tier war es dann – ein Löwe? Ein Tiger? Oder etwas noch Exotischeres und Gefährlicheres?
Zuerst sucht der Gefangene nach einem Weg hinaus, er läuft einen schmalen Weg nach dem anderen ab, doch nur von oben, dort, wo der Sultan sitzt, lässt sich die gesamte Anlage erkennen. Und nur von diesem Hochsitz (Thron) aus erkennt man, dass es kein Entrinnen gibt. Die Bestie schläft im Herzen des Irrgartens, im Schatten der hochaufragenden Terebinth-Pistazie.
Die Terebinth-Pistazie war ebenfalls bereits zuvor erwähnt worden, und Beth hatte einige Nachforschungen darüber angestellt. Genug, um herauszufinden, dass es sich um einen gewaltigen einheimischen Baum handelte, aufgrund eines Buchstabendrehers besser bekannt als Terpentin-Pistazie, der rund tausend Jahre alt werden konnte. Obwohl die Pflanze manchmal auch andere Namen hatte, wurde sie in vielen Bibelstellen besonders hervorgehoben: Unter solch einem Baum wurde König Saul beerdigt. In den mächtigen Zweigen des Terebinth blieb Abschalom, der sich für unüberwindlich hielt, auf der Flucht mit den Haaren hängen und wurde daraufhin getötet. Und in dem Tal von Elah, das dicht mit diesen immergrünen Bäumen bewachsen war, besiegte David mit seiner Schleuder den Helden der Philister, Goliath.
Sobald sich der Gefangene nähert, hebt die Bestie den Kopf. Ihr Geruchssinn ist erstaunlich und ihr Appetit auf Blut unstillbar. Der Gefangene weiß nicht, dass das Ungeheuer so nah ist, sondern wandert immer tiefer in die Falle hinein, unfähig, hinter die dichten Mauern aus Weißdornbüschen zu blicken, mit ihren dornigen Zweigen und hellen weißen Blüten. Während er sich immer weiter in den gewundenen Garten hineinwagt, erwacht das Ungeheuer aus seiner Erstarrung und erhebt sich auf die vier bekrallten Füße. Während der Gefangene immer noch nach einem Ausweg aus der grünen Einfriedung (Falle) sucht, macht das Ungeheuer sich daran, seine Beute aufzuspüren. Mit meinen eigenen Augen, Gott sei mein großer und ewiger Zeuge, habe ich viele Gefangene des Sultans gesehen, Männer wie ich, die ihm gut und treu gedient hatten, bis sie in den Irrgarten gestoßen wurden, um zu Tode gehetzt und in Stücke gerissen zu werden. Es geht die Rede, dass der Sultan, wenn er keine Verwendung mehr für einen Mann hat, dieser ihm immer noch von Nutzen sei, nämlich indem er diese verfluchte Kreatur unterhalte, diese Bestie, die er seinen Mantikor nennt.
Beth ließ die Hand, mit der sie die Übersetzung festhielt, sinken. Es war zu bizarr, zu unglaublich, was sie da las. Und trotzdem zog sie kein einziges Wort davon in Zweifel. Es war, als würde ihr der Schreiber diese Sätze ins Ohr flüstern. Und es untermauerte ihren ersten Eindruck, den die Illustrationen ihr vermittelt hatten – dass es sich dabei nicht einfach um Auswüchse der Phantasie handelte, sondern dass sie nach lebenden Modellen gemalt worden waren. Der Künstler, so spürte sie, hatte getreulich das wiedergegeben, was er mit eigenen Augen gesehen hatte.
So unmöglich das, selbst jetzt noch, schien.
»Da steckst du ja«, rief Elvis ihr zu, als er in Sandalen und Shorts über den Kiesweg geschlurft kam. In der hellen Sonne sah er so blass aus, dass er beinahe durchsichtig wirkte. »Mrs Cabot sucht dich überall.«
»Warum?«
Elvis rückte seine Sportsonnenbrille zurecht und sah sich um, als wäre er noch nie so direktem Tageslicht ausgesetzt gewesen. »Ich weiß nicht
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