Knochenhaus (German Edition)
Bürgersteig, und schrammt dabei mit dem Kotflügel an einer Mauer entlang.
Es hat aufgehört zu regnen, und aus dem Schultor ergießt sich ein Strom junger Mädchen, alle in lila Pullovern und kurzen schwarzen Röcken. Jedes Mal, wenn er ein Mädchen mit langen blonden Haaren sieht, klopft ihm das Herz bis zum Hals; doch es gibt so viele davon. So viele schlanke junge Mädchen mit kurzem Rock und langem, lockigem Haar, und keines davon ist eine seiner Töchter. Das Herz schlägt ihm immer schneller, er hört sein eigenes unterdrücktes Stöhnen, fast schon ein Wimmern. Bitte, lieber Gott , fleht er wild zu dem höheren Wesen hinauf, das er größtenteils ignoriert, seit er erwachsen ist, bitte, lieber Gott, mach, dass ihnen nichts passiert ist .
Und dann entdeckt er inmitten des Gewirrs aus lila Pullovern Paige, Rebeccas beste Freundin, die völlig sorglos aus dem Schultor spaziert kommt und sich mit einem pummeligen Mädchen mit schreiend pink gefärbtem Haar unterhält.
«Paige!» Nelson brüllt so laut, dass alle zu ihm herschauen. «Paige!»
Er rennt auf sie zu und packt sie am Arm. Ihm ist klar, dass er sich wie ein Irrer aufführt. Rebeccas netter, anständiger Vater, der Polizist, den die Mädchen alle mögen, weil er sich beim Karaoke zum Affen macht und sie jederzeit bereitwillig durch die Gegend kutschiert, hat sich plötzlich in einen Wahnsinnigen mit weit aufgerissenen Augen und zitternden Händen verwandelt.
«Paige! Wo ist Rebecca?»
Paige weicht erschrocken zurück und bringt kein Wort heraus. Der Mund bleibt ihr offen stehen, und Nelson sieht den Kaugummi darin. Plötzlich packt ihn eine mörderische Wut, weil dieses Mädchen, diese kleine dumme Gans, in Sicherheit ist, während seine heißgeliebten Töchter in Lebensgefahr schweben.
«Wo ist Rebecca?», fragt er sie noch einmal und versucht, seine Stimme dabei ruhiger klingen zu lassen.
«Keine Ahnung. Ich glaube, sie hat noch irgendeine Veranstaltung nach dem Unterricht …» Sie weicht immer noch vor ihm zurück, die Augen kugelrund vor Schreck. Nelson schließt die Augen und versucht, die Dämonen in seinem Innern zum Schweigen zu bringen. Da kommt ihm ganz unerwartet das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren zu Hilfe.
«Sie ist beim Theaterclub», sagt sie eifrig. «Die proben gerade Anatevka . Zimmer C9, Block 3.»
Nelson rennt bereits los, bevor sie ganz zu Ende gesprochen hat. Er schlittert über den nassen Rasen des Sportplatzes, sprengt dort ein Hockey-Team in alle Richtungen auseinander («Aus dem Weg!») und reißt dann die Eingangstür auf, die zu Block 3 führt. Herrgott, wieso gibt es in dieser Schule bloß so viele Türen? Er rennt durch die endlosen Gänge, während eine Tür nach der anderen hinter ihm zuknallt. «Rebecca!», ruft er, und der Widerhall wird von Glas und Rigipsplatten und der Foto-Collage von der Abschlussfahrt 2007 zurückgeworfen. Zimmer C9, hat das Mädchen gesagt. Aber um ihn komplett in den Wahnsinn zu treiben, folgt die Zimmernummerierung keiner erkennbaren Ordnung: A12, B1, B7, D15. Er bleibt stehen, dreht um, und das Herz klopft ihm noch heftiger als zuvor. Dann greift er wahllos nach einem vorbeigehenden Arm. «C9», stößt er keuchend hervor. Der Arm gehört einem Mann mittleren Alters, der ihn unbehaglich mustert.
«Wer sind Sie denn?»
«Der Vater von Rebecca Nelson. Wo ist sie?!»
Doch da entdeckt er, wie durch ein Wunder, hinter dem cordbewehrten Rücken seines Gegenübers eine Tür mit der Aufschrift «C9». Er schubst den Mann beiseite und reißt die Tür auf.
In dem großen Raum befinden sich eine improvisierte Bühne, eine sichtlich gestresste Lehrerin, ein paar kaugummikauende Mädchen und – Wunder über Wunder, Freude ohnegleichen! – seine Tochter. Ohne auf die anderen zu achten, schließt Nelson die entrüstete Rebecca fest in die Arme.
«Gott sei Dank! Gott sei Dank!»
«Dad! Lass mich los!»
«Rebecca.» Er hält sie auf Armeslänge von sich weg. «Wo ist Laura? Wo ist deine Schwester?» Wenn Laura etwas passiert ist, wird er sich ewig Vorwürfe machen, weil er sich zuerst um Rebecca gekümmert hat.
«Keine Ahnung. Lass mich endlich los, Dad! Was soll das alles überhaupt?»
«Wir fahren nach Hause.»
«Ich will aber nicht nach Hause. Ich spiele die Zeitel.»
«Los, komm.»
Ohne Rebeccas Arm loszulassen, ruft er der inzwischen völlig entgeisterten Lehrerin eine knappe Entschuldigung zu und stürmt samt Tochter wieder aus dem Zimmer.
Draußen im Gang tippt er
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