Knochenhaus (German Edition)
zombiehaften Zustand kompletter Unterhaltung abzudriften, da nuschelt einer der Protagonisten plötzlich etwas von seiner kleinen Schwester Jokaste.
Jokaste.
Was an diesem Namen lässt plötzlich alle Alarmglocken in Judys Kopf schrillen? Ohne weiter darauf zu achten, dass auf der Leinwand gerade versucht wird, das Empire State Building in die Luft zu jagen (man könnte das Genre vielleicht als Post-9/11-Apokalypse bezeichnen), lässt sie die letzten paar Stunden noch einmal vor ihrem inneren Scanner Revue passieren. Judy hat ein hervorragendes Gedächtnis – ein Grund mehr, warum der verflixte Nelson sie endlich befördern sollte. Jokaste … Jokaste. Da. Da ist es.
Ich war erst dreiundzwanzig. Er nannte mich seine Jokaste.
Keine Minute später stolpert Judy aus dem Kinosaal, ungeachtet der Tatsache, dass sie jetzt wohl nie erfahren wird, ob es Todd, Brad und Shannon tatsächlich gelingt, die Welt zu retten. Im Foyer setzt sie sich auf die staubige, mit Popcorn bekrümelte Treppe und konsultiert ihren Blackberry. Sie gibt «Jokaste» in die Suchmaschine ein, und gleich darauf liest sie: «Jokaste ist eine bekannte Figur aus der griechischen Mythologie. Sie war die Frau des Laios sowie die Mutter und spätere Ehefrau des Ödipus …»
Die Mutter und spätere Ehefrau des Ödipus.
Ödipus hat unabsichtlich seine Mutter geheiratet – daher auch der gleichnamige Komplex. Doch warum sollte Christopher Spens, der so viel älter war, Orla seine Jokaste nennen? Judy gräbt weiter in ihrem Gedächtnis, bis sie bei dem Stammbaum der Familie Spens angekommen ist, den sie an ihrem Schreibtisch auf dem Revier gezeichnet hat: Roderick, * 1938 . Wenn Orla beziehungsweise Schwester Immaculata heute fünfundsiebzig ist, muss sie 1933 geboren sein. Sie war dreiundzwanzig, als das Kind starb. Roderick muss damals achtzehn gewesen sein. Er nannte mich seine Jokaste.
Judy wählt Nelsons Nummer.
Doch Nelson hört den Anruf nicht. Er schaut mit starrem Blick auf eine SMS. Fünf Worte nur: Ich werde deine Tochter töten.
30. Juni
Tag der Aestas
Ich nahm mein Messer und ging ins Haus. Es war alles ganz still. Die Mutter war unten in der Waschküche beschäftigt, die Hausmädchen hatten den Vormittag frei. Ich ging hinauf in ihr Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen, im Raum lag rosiges Dämmerlicht, so wie das Licht, das man sieht, wenn man die Augen schließt.
Ihre Augen sind blau, wie meine. Das ist mir noch nie aufgefallen. Sie bewegt die Lippen, als wollte sie etwas sagen. Sie spricht nicht viel – ein weiterer Hinweis auf ihre Schwachsinnigkeit –, doch jetzt will sie anscheinend etwas sagen. Ich beschließe, ihr zuvorzukommen.
«Hallo», sage ich.
«’lo», antwortet sie.
[zur Inhaltsübersicht]
30
Nelson rennt so schnell wie noch nie in seinem ganzen Leben. Zweimal im Lauf seiner Polizeikarriere war er ernsthaft in Lebensgefahr, doch selbst in diesen Augenblicken war er recht zufrieden damit, wie er mit der Situation umgegangen ist. Das Wissen, jeden Moment draufgehen zu können, hat seine Reaktionsfähigkeit noch geschärft, ihn kalt und präzise gemacht. Er war weniger verängstigt als vielmehr wütend und wild entschlossen, die Übeltäter damit nicht durchkommen zu lassen. Doch jetzt ist das völlig anders. Das Herz zerspringt ihm fast in der Brust, es pocht mit schweren, zitternden Schlägen, und ihm wird schwindelig und schlecht davon. Er stolpert beim Rennen, seine Koordination ist im Eimer, sein Atem geht flach und stoßweise, jeder Atemzug schmerzt. Seine Tochter. Jemand will einer seiner Töchter etwas antun. Es kommt ihm vor, als hätte man ihm bereits das Herz aus dem Leib gerissen.
Als er bei seinem Wagen ist, schaut er auf die Uhr. Halb vier. Denk nach. Konzentrier dich. Er zwingt sich, tiefer zu atmen, hält das Lenkrad fest umklammert. In diesem Zustand ist er niemandem eine große Hilfe. Wo können Laura und Rebecca gegen halb vier sein? Die Schule ist gerade aus. Wenn er sich beeilt, kann er in fünf Minuten dort sein.
Beeilen … Nelson lässt eine Spur verwirrter und verängstigter Mit-Verkehrsteilnehmer hinter sich zurück, als er, die meiste Zeit auf der Gegenfahrbahn, zur Schule der Mädchen am Stadtrand von King’s Lynn rast. Das Martinshorn auf dem Dach seines Wagens gellt, und er geht für praktisch nichts vom Gas, weder für rote Ampeln noch für Straßenkreuzungen oder gar Fußgänger. Schließlich hält er mit quietschenden Reifen vor dem Schulgebäude, halb auf dem
Weitere Kostenlose Bücher