Knochenhaus (German Edition)
spürten aber, dass es da war; doch nun ist da nichts mehr, nur eine Ahnung von sich dehnender Wasserfläche und Stille ringsum. Die Lady Annabelle ist wieder im Nebel verschwunden, und hoch über ihren Köpfen hören sie Möwen kreischen.
«Wo zum Teufel sind sie hin?», ruft Nelson.
Da zerreißt ein weiterer Schuss die Stille.
Das reicht. Ohne auf Cathbads warnende Rufe zu achten, springt Nelson kopfüber in den Fluss. Er hat keine Vorstellung davon, wohin er will, er weiß nur, dass er die Warterei keine Sekunde länger aushält. Er kann nicht untätig dasitzen, während dort drüben geschossen wird und er nichts unternehmen kann. Er muss einfach näher heran. Er muss zu Ruth.
Das Wasser ist eisig, und irgendwie muss er Nebel in die Augen bekommen haben, der ihn blendet, ihn keuchend nach Atem ringen lässt. Für ein paar Sekunden glaubt er zu ertrinken, doch dann treibt ihn irgendein Überlebensinstinkt dazu, sich zu bewegen, sich durch das schwarze Wasser voranzukämpfen, obwohl seine schweren, nassen Kleider ihn erbarmungslos nach unten ziehen.
Dann taucht das Schiff plötzlich wieder vor ihm auf, gewaltig und undurchdringlich wie ein Wolkenkratzer. Er tritt im Wasser auf der Stelle und ruft noch einmal: «Ruth!»
Von irgendwoher ruft Max nach ihm, doch seine Stimme scheint kilometerweit weg. Nelson kann nur noch an das Hindernis da vor sich denken. Er muss auf dieses Boot, er muss Ruth retten. Weiß der Himmel, was der Dreckskerl ihr bereits angetan hat. Verzweifelt hämmert er mit den Fäusten gegen die Metallverkleidung der Lady Annabelle . Einen halben Meter über ihm ist ein Geländer, doch dazwischen gibt es nichts, woran er sich festhalten könnte. Er rudert wild mit Armen und Beinen, fällt ins Wasser zurück, geht unter und kommt prustend wieder hoch. Im selben Moment schlägt nur wenige Zentimeter neben ihm etwas Schweres auf dem Wasser auf.
Ein menschlicher Körper, da ist er sich sicher. Er hört den schweren Aufprall und weiß ohne den Hauch eines Zweifels, dass dieser Mensch bereits tot war, als er im Wasser gelandet ist. Einen Augenblick lang spürt Nelson gar nichts mehr. Sein Körper, sein ganzes Wesen ist wie betäubt. Noch während er auf den dunklen Umriss im Wasser zuschwimmt, weiß er, dass es vorbei ist. Er ist sich sicher, dass sie tot sein muss.
Max versucht, in dem Elektroboot an Nelson dranzubleiben. Er sieht, wie Nelson die Lady Annabelle erreicht und verzweifelt versucht, am Schiffsrumpf Halt zu finden. Max hält das kleine Boot auf einer Linie zu dem größeren. Cathbad hinter ihm ist wieder in Schweigen versunken. Als Nelson über Bord gesprungen ist, hat er «Harry!» geschrien. Anfangs hat Max geglaubt, Cathbad wäre in Ruth verliebt; jetzt ist er sich da nicht mehr so sicher.
Die Lady Annabelle hält wieder auf sie zu, und Max muss schnell handeln, damit sein Boot nicht gerammt wird. Er sieht Nelson im Wasser, dann hört er ein durchdringendes Krachen und sieht jemanden über Bord fallen.
«O nein», haucht Cathbad.
«Festhalten», kommandiert Max. Er dreht das Elektroboot um fast neunzig Grad, und irgendwie gelingt es ihm, es zu Nelson zu manövrieren, der den leblosen Körper im Schleppgriff hat, obwohl er sich selbst kaum über Wasser halten kann.
«Durchhalten, Nelson!», ruft Max ihm zu. «Ich bin hier!»
Gemeinsam mit Cathbad zieht er die leblose Gestalt ins Boot. Sie ist erschreckend schwer, wie tot. Dann hilft Cathbad dem zitternden, heulenden Nelson an Bord, der offensichtlich völlig neben sich steht.
Max beugt sich über die Gestalt. Als er wieder aufschaut, lichtet sich der Nebel urplötzlich und enthüllt den Vollmond wie ein unheilvolles Auge am Himmel.
«Sie ist es nicht», sagt er sanft.
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35
Es ist der 21. Juni, der längste Tag des Jahres. Max hat am Abend zu einer Party an der römischen Ausgrabungsstätte geladen, um sowohl die Sommersonnenwende als auch den Abschluss des Ausgrabungsprojekts zu feiern. Cathbad wird dort sein, bewaffnet mit Wünschelrute, Mistelkranz und Eichenstab. Auch Ruth ist eingeladen, so wie die meisten anderen Mitarbeiter aus dem Fachbereich Archäologie. Nur Nelson hat beschlossen, die Einladung auszuschlagen; er ist stattdessen unterwegs nach Sussex, um Pater Patrick Hennessey zu besuchen.
Warum er das tut, weiß er selbst nicht genau. Am Telefon hat er Hennessey erklärt, er wolle «noch ein paar lose Fäden aufrollen», doch im Grunde sind alle losen Fäden im Mordfall Bernadette McKinley
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