Knochenhaus (German Edition)
fassen bekommt. Doch als sie sich aufrichtet, schaut sie direkt in die Mündung einer Pistole.
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34
Im ersten Moment glaubt Ruth, die Pistole müsse eine Attrappe sein. Sie wirkt so hochglanzpoliert und altmodisch, außerdem ist Roderick doch ein alter Mann, ein schwächlicher, ausgedienter Angeber, der gern Ausflüge mit der Seniorengruppe der Konservativen unternimmt. Und so sagt sie selbst im Angesicht der auf sie gerichteten Waffe mit ruhiger, vernünftiger Stimme: «Machen Sie keinen Unsinn. Passen Sie lieber auf das Boot auf.»
Als Antwort feuert Roderick einmal in die Luft. Durch den lauten Schuss und den beißenden Geruch des Schießpulvers muss Ruth sich fast noch einmal übergeben. Offenbar ist die Pistole wie Roderick: alt, aber dennoch tödlich.
«Sehen Sie, meine Liebe?», sagt Roderick selbstgefällig. «Ich bin nicht nur ein dummer alter Schwächling mit einer Pistole. Ich weiß, wie man damit umgeht. In Cambridge war ich Sportschütze.»
Ruth hat bereits mehr als genug über Cambridge gehört. Ganz unvermittelt schlägt ihre Angst in Zorn um, und sie schreit zurück: «Mir ist es so was von egal, auf welcher Uni Sie waren. Lassen Sie mich endlich runter von diesem beschissenen Boot!»
Statt einer Antwort kommt Roderick näher, immer noch lächelnd, und drückt den Lauf der Pistole fest an ihren Bauch.
«Wenn Sie noch einmal so ungezogen sind, meine Liebe, erschieße ich Ihr Kind.»
Eine Pause entsteht. Das Boot driftet weiter nach links, und ein winziger Teil von Ruths Hirn hofft, dass es auf Grund läuft oder eine weitere Brücke rammt. Doch der Rest konzentriert sich fieberhaft auf diesen Wahnsinnigen, der ihr Leben bedroht – und das Leben, das ihr, wie ihr jetzt klarwird, mehr bedeutet als ihr eigenes. Sie starrt in Sir Rodericks trübe Augen. Es muss doch etwas geben, was sie sagen, womit sie ihn ablenken kann, etwas, das ihm klarmacht, was er da tut, ihn dazu bringt, sie als Mitmenschen zu betrachten. Dann fällt ihr wieder ein, dass dieser Mann sein eigenes Kind kaltblütig ermordet hat, bevor er selbst richtig erwachsen war. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er seither große Fortschritte in Sachen Menschlichkeit gemacht hat.
Sie starren einander immer noch an, als plötzlich, wie aus kilometerweiter Ferne, ein Ruf an ihr Ohr dringt: «Ruth!»
Sir Roderick gerät kurzzeitig aus dem Konzept. Als er sich von ihr abwendet, schreit Ruth, so laut sie kann: «Hilfe!» Doch ihre Stimme verhallt nutzlos, verschluckt von der Nebelwand. Sir Roderick wirbelt wieder zu ihr herum, und Ruth reißt den Arm nach oben und schlägt ihm die Pistole aus der Hand.
«Drecksau!», faucht Sir Roderick und holt aus, um ihr wieder ins Gesicht zu schlagen. Doch Ruth liegt bereits auf den Knien und sucht nach der Pistole. Sie sieht nichts, ist sich aber sicher, dass sie hier irgendwo sein muss. Ihre Finger ertasten eine Plane, gebohnerte Holzbohlen, einen Messinggriff und dann, wie durch ein Wunder, den kalten Metalllauf. Sie springt wieder auf die Füße und richtet die Waffe auf Sir Roderick.
«Bleiben Sie weg von mir, sonst schieße ich.»
Sir Roderick lacht, ein echtes, lautes Lachen diesmal, das einer lebenslangen Verachtung für Frauen entspringen muss.
«Schießen! Weiber können doch nicht schießen.»
Ruth drückt ab.
Es war Nelson, der sie beim Namen gerufen hat. Als der erste Schuss fiel, hat er wie besessen in den Nebel hineingebrüllt, obwohl er keine Vorstellung hat, wo das Geräusch herkam. Dann ruft Cathbad plötzlich: «Achtung!», und vor ihnen taucht die Lady Annabelle aus dem Nebel auf und hält direkt auf sie zu. Sonst ein kleines Boot, wirkt sie nun gewaltig groß, ein riesiger schwarzer Schatten, schweigend und bedrohlich.
«Ruth!», brüllt Nelson erneut.
Er hört eine Stimme antworten, kann aber nicht verstehen, was sie sagt. Dann fällt er selbst fast über Bord, als Max hektisch nach links steuert, um dem größeren Schiff auszuweichen.
«Was hat er denn vor?», brüllt Nelson, das Gesicht nass von der Gischt.
«Ich glaube, da ist keiner mehr am Ruder», ruft Max zurück.
Ist Sir Roderick etwa tot? Oder ringt er gerade jetzt verzweifelt mit Ruth? Den Gedanken, dass Ruth tot sein könnte, darf Nelson sich nicht erlauben. Ruth und seine namenlose, unbekannte Tochter.
«Wir sind auf dem Candle Dyke», sagt Max, und jetzt merkt auch Nelson, dass sie mit einem Mal mehr freien Raum um sich haben. Vorher konnten sie das Ufer zwar auch nicht sehen,
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