Knochenhaus (German Edition)
Innenwand, an der noch die Tapete klebt, dunkelrot mit einem blassen schwarzen Muster.
«Der Boss hat ja auch einen Heiligenschein», sagt Clough. «Haben Sie das gewusst?» Die Frage gilt Ruth.
«Einen Heiligenschein …? Ach, Sie meinen, dass er katholisch ist. Nein. Woher sollte ich das denn wissen?» Sie möchte Clough nicht auf die Idee bringen, dass sie und Nelson sich irgendwie nahestehen.
«Wir haben ein paar von den Leuten aufgetrieben, die früher hier gearbeitet haben. Ganz normale Leute, keine Priester oder Nonnen. Sogar ein paar frühere Insassen haben wir gefunden. Wird eine Heidenarbeit, die ganzen Aussagen aufzunehmen.»
«Sie bekommen doch sicher Überstunden bezahlt», meint Ruth trocken.
«Na klar.» Clough grinst. «Zum Glück gibt’s Überstunden. Und, haben Sie schon was Neues über das Skelett rausgefunden?»
«Nein», antwortet Ruth geduldig. «Wie ich Ihnen bereits gestern erklärt habe, muss ich die Knochen zunächst gründlich innerhalb des Fundkontextes untersuchen, ehe wir sie ins Labor bringen können.»
«Und wie lange wird das noch dauern?»
«Ich hoffe, morgen damit fertig zu werden. Ich muss die Knochen alle einzeln verpacken und beschriften und Bodenproben entnehmen.»
«So lange? Das sind doch nur ein paar Knochen.»
«Der menschliche Körper enthält zweihundertundsechs verschiedene Knochen», entgegnet Ruth spitz. «Und bei einem Kind sind es etwa dreihundert.»
«Na, wie auch immer.» Clough steht auf und klopft sich Kekskrümel von der Baumwollhose. Wie Nelson trägt er Zivilkleidung, legt aber anscheinend etwas mehr Wert auf sein Äußeres als sein Chef. «Dann will ich mal wieder zurück in die Tretmühle. Es gibt halt keine Ruhe für die Gottlosen.»
Wie viele von Cloughs Äußerungen ist auch das eine bloße Phrase. Doch als Ruth sich wieder an die Arbeit im Graben macht, geht ihr der Satz nicht aus dem Kopf. Keine Ruhe für die Gottlosen. Hatten diese Knochen ihre Ruhe bereits gefunden? Stört Ruth sie jetzt? Oder ist hier eine gottlose Tat geschehen, vor wie vielen Jahren auch immer? Hat jemand dieses Kind getötet? Und was ist mit der Katze?
Keine Ruhe für die Gottlosen. Cathbad würde sicher sagen, dass die Erinnerung an eine böse Tat einem Ort erhalten bleibt. Dabei wirkt dieses Baugrundstück mit seinen halbverfallenen Spukschlossmauern, dem prächtigen Torbogen, den Treppenstufen und Türen, die ins Nichts führen, auch so schon unheimlich genug. Cathbad würde überdies sagen, dass Ruth sich vorsehen soll, wenn sie die Ruhe der Toten stört, sich in Vergangenes einmischt. Aber das ist nun einmal ihr Beruf. Sie ist forensische Archäologin. Es ist ihre Aufgabe, diese Leiche auszugraben und aus den Knochen, der Bestattungstechnik, ja selbst aus der Beschaffenheit des Bodens ihre Schlüsse zu ziehen. Das ist ganz und gar alltäglich und sicher kein Grund, nervös zu werden.
Doch als es langsam dämmert und Ted und Trace ihre Werkzeuge zusammenpacken, schließt Ruth sich ihnen an. Vernunft ist ja schön und gut – aber deshalb muss sie noch lange nicht nach Einbruch der Dunkelheit allein an dieser Ausgrabungsstätte bleiben.
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9
«Und wie lange haben Sie im Kinderheim zum Heiligsten Herzen gewohnt?»
«Drei Jahre. Ich bin mit dreizehn dorthin gekommen und habe es mit sechzehn wieder verlassen. Pater Hennessey hat mir eine Lehrstelle vermittelt. Im Grunde verdanke ich ihm so ziemlich alles.»
Nelsons Gesprächspartner, ein sanftmütiger Mann Mitte vierzig, sieht ihn lächelnd an, und Nelson zwingt sich zurückzulächeln. Dies ist bereits der dritte ehemalige Bewohner des Kinderheims, der unaufgefordert Zeugnis von Pater Hennesseys Großherzigkeit ablegt. Clough hat es vor einer halben Stunde treffend auf den Punkt gebracht: «Die Typen haben wohl alle eine Gehirnwäsche bekommen.»
Während Nelson und Clough die Aussagen der ehemaligen Kinderheimbewohner aufnehmen, ist Detective Constable Judy Johnson, die ebenfalls zu Nelsons Mitarbeiterstab gehört, unterwegs zu Schwester Immaculata, einer Nonne, die früher einmal im Kinderheim gearbeitet hat und heute in einem Seniorenheim in Southport lebt. Weil Nelson Southport schrecklich findet und Clough Nonnen nicht leiden kann, wurde beschlossen, dass dieser Termin «weibliches Einfühlungsvermögen» erfordere.
«Mr. Davies …» Nelson beugt sich ein wenig vor. «Wurden während Ihrer Zeit im Kinderheim irgendwelche Insassen … Bewohner, meine ich …
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