Knochenhaus (German Edition)
Händen halten. Als Judy noch hinüberschaut, kantern drei Rennpferde ins Blickfeld, die Hälse zurückgebogen im Kampf gegen das Zaumzeug. Sand stiebt hinter ihnen auf. Judy bleibt einen Augenblick stehen, und Schwester Immaculata dreht sich zu ihr um und sagt: «Haben Sie gewusst, dass Red Rum hier trainiert wurde?»
«Nein.»
«Ich habe 1976 auf ihn gesetzt. Ausgerechnet in dem Jahr wurde er nur Zweiter. Typisch.»
«Hatten Sie auf Sieg oder Platz gewettet?», fragt Judy, deren Vater Buchmacher ist.
«Nein, natürlich auf den ersten Platz. Wie gesagt, typisch.»
Die Pferde fallen jetzt in vollen Galopp, schießen freudig über den Sand, mit wehenden Mähnen und wehendem Schweif. Die Jockeys kauern vornübergebeugt nah am Hals der Pferde, sie scheinen fast in der Luft zu stehen. Judy wollte früher auch Jockey werden. Aber dann fing sie an, sich für Jungs zu interessieren.
Das Seniorenheim hat sich als Kloster entpuppt, das ältere Nonnen betreut, und die Oberschwester hat Judy vorgeschlagen, Schwester Immaculata «spazieren zu fahren».
«So kommt sie ein wenig an die frische Luft, und Sie können sich in Ruhe unterhalten.» Judy kennt diese Mischung aus Freundlichkeit und einer Strenge, die keinen Widerspruch duldet, noch aus ihrer eigenen (Kloster-)Schulzeit.
Sie bleibt vor einer Bank stehen, stellt die Bremsen des Rollstuhls fest und setzt sich dann neben die alte Nonne. Aus den Datenbanken der Polizei weiß sie, dass Schwester Immaculata, die mit richtigem Namen Orla McKinley heißt, fünfundsiebzig Jahre alt ist, doch der Schleier, der ihr Haar bedeckt, und der hochgeschlossene Habit verbergen die offensichtlichsten Zeichen des Alters. Ihr Gesicht ist erstaunlich faltenfrei, die blauen Augen blicken noch sehr klar. Nur die Hand, die jetzt zum Southport Pier deutet, verrät das Alter ihrer Besitzerin. Es ist die Hand einer Mumie, knochig und verformt.
«Schwester Immaculata», setzt Judy an. «Sie haben von 1960 bis 1980 im Kinderheim zum Heiligsten Herzen gearbeitet.»
«Das war keine Arbeit», unterbricht die Nonne sie schroff. «Das war Berufung.»
«Entschuldigung. Aber Sie haben selbst im Heim gewohnt?»
«Ja.»
«Wie war es dort?»
Schwester Immaculata schweigt und blickt über die vielen Kilometer hellen Sandes hinweg, doch Judy merkt, dass ihre Hände ein wenig zittern. Ist das Altersschwäche? Oder etwa Angst?
«Es war ein schönes Haus. Ein wunderbarer Garten. Einer jener Orte, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass dort jemals schlimme Dinge geschehen.»
Judy hält den Atem an. Sie darf das auf keinen Fall vermasseln. Der Boss erwartet Ergebnisse von ihr. Deshalb hat er ja sie geschickt und nicht Clough, der der Nonne wahrscheinlich längst teuflische Machenschaften unterstellt und sich zu einem frühen Mittagessen verzogen hätte.
«Was für schlimme Dinge meinen Sie denn?»
Die Nonne dreht abrupt den Kopf und mustert Judy aus zusammengekniffenen Augen.
«Es sind zwei Kinder verschwunden. Finden Sie das nicht schlimm genug?»
«Sie meinen Martin und Elizabeth Black?»
«Ja. Sie sind verschwunden. Spurlos. Wie vom Erdboden verschluckt.»
Judy erschauert. Es hört sich fast an wie ein Märchen, eines von der Sorte, die ihr schon immer große Angst gemacht haben. Zwei Kinder gehen in den Wald, und zack! Schon werden sie von einem Wolf gefressen, in ein Knusperhäuschen gelockt oder bekommen von einer nahen Verwandten einen vergifteten Apfel geschenkt. Spurlos verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
Sie hat Mühe, ihre Stimme wieder professionell gefasst klingen zu lassen. «Wie gut kannten Sie Martin und Elizabeth?»
Schwester Immaculata wirkt schon wieder ganz gelassen. «Ich habe Martin unterrichtet», sagt sie. «Mit den jüngeren Kindern hatte ich nicht viel zu tun, um die kümmerte sich Schwester James, Gott hab sie selig. Aber an Martin erinnere ich mich gut. Pater Hennessey hielt große Stücke auf ihn, aber wenn Sie mich fragen, hat er vor allem viel Ärger gemacht.»
«Inwiefern?»
«Er war ein schlaues Kerlchen. Er interessierte sich brennend für Geschichte, Gladiatoren, Dinosaurier und dergleichen. Und für Naturwissenschaften. Ständig hat er irgendwelche abwegigen Experimente ausprobiert. Pater Hennessey hat ihn dazu ermuntert, er hat ihm sogar ein Labor im Keller eingerichtet, ihm Bücher zum Lesen gegeben. Aber Martin war nun mal ein Junge, der seine Intelligenz vor allem dazu nutzte, Ärger zu machen. Im Unterricht hat er ständig Fragen
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