Knochenhaus (German Edition)
eines Toten, doch bei einem vorpubertären Skelett kann man das kaum beurteilen. Und dieses hier wirkt erbarmungswürdig klein, wie es da so schutzlos im kalkigen Boden liegt.
«Wie kommen Sie voran?» Wie eine Puppe im Kasperltheater streckt Ted der Ire den Kopf über den Rand des Grabens.
«Ganz gut. Die Knochen sind schon fast freigelegt. Ich muss nur noch ein paar Zeichnungen machen.»
«Wir haben da was gefunden. Wollen Sie sich’s anschauen?»
Ruth richtet sich langsam auf. Manchmal wird ihr schwindelig, wenn sie zu schnell aufsteht, doch heute fühlt sie sich so gut, dass es schon fast an ein Wunder grenzt. Vielleicht ist ja das berühmte zweite Schwangerschaftsdrittel angebrochen, in dem man «aufblüht», wenn man den Büchern glauben darf, vor Energie nur so strotzt und wieder mehr Lust auf Sex hat. Klingt doch eigentlich ganz gut, denkt Ruth, während sie Ted durch ein wahres Labyrinth aus Gräben und Wällen folgt. Zumindest etwas, worauf man sich freuen kann.
Auf dem hinteren Teil des Grundstücks stehen noch ein paar vereinzelte Schuppen. Die Fensterscheiben sind eingeschlagen, die Türen hängen schief in den Angeln. Daneben erkennt man die Überreste eines Gewächshauses, ein hölzernes Gerippe mit einigen intakten Scheiben. Als Ruth vorbeigeht, sieht sie, dass ein Arbeiter die verbliebenen Fenster systematisch einschlägt. Eines war offenbar mit Buntglas gestaltet, rot und blau und gelb. Die Splitter fallen Ruth wie ein Regenbogen vor die Füße.
Sie folgt Ted an den Schuppen vorbei bis in den ehemaligen Garten. Hier wachsen die Neubauten bereits eifrig in die Höhe: akkurate Vierecke aus Stein und Rigipsplatten. Ruth steigt über ein Frühbeet hinweg, von dessen einstiger Abdeckung nur noch Glasstaub übrig ist, und bemerkt das ausgefranste Seil, das noch am Ast eines Baumes hängt. Ob das einmal eine Schaukel war? Zerbrochene Steinplatten ermöglichen einen improvisierten Weg durch den Matsch. Der Lärm der Zementmischer ist ohrenbetäubend.
Ted hat Ruths Anweisungen befolgt und an den Grundstücksgrenzen, dicht an der hohen Mauer aus Feuerstein, weitere Gräben ausgehoben. In einem davon steht Trace; sie trägt ein rosa T-Shirt mit der Aufschrift «Killer-Barbie».
Ruth schaut in den Graben hinein. Einen guten Meter unterhalb des Mutterbodens liegt ein freigelegtes kleines Skelett, das aber offensichtlich nicht von einem Menschen stammt.
«Was ist das?», fragt Ruth. Sie muss schreien, um den Baulärm zu übertönen.
«Eine Katze, würd ich sagen», antwortet Ted.
«Ein Tierfriedhof?»
«Möglich. Wobei ich noch keine weiteren Tierkadaver gefunden habe.»
Sie haben auch keine weiteren menschlichen Leichen gefunden, was umso erstaunlicher ist, als hier doch früher ein Friedhof gewesen sein soll. Der Bezirksarchäologe wird mit Sicherheit enttäuscht sein. Vielleicht wurde das Grundstück ja bereits von den Viktorianern gesäubert. Es wäre beileibe nicht die erste archäologische Grabungsstätte, die sie ruiniert hätten. Ruth mustert die Knochen, die aus dem schlammigen Boden ragen. Nach der Schwanzform zu urteilen, ist sie ziemlich sicher, dass es ein Katzenkadaver sein muss.
«Ein heißgeliebtes Haustier vielleicht?», schlägt sie vor und denkt dabei an Flint.
«Kann sein …» Ted sieht sie von der Seite an. «Allerdings …»
«Ja?»
«Es hat keinen Kopf.»
«Wie bitte?»
«Der Kopf fehlt. Trace und ich sind uns beide sicher.»
Ruth betrachtet das Skelett erneut. Sie sieht die Wirbelsäule, den säuberlich um die Beine geschlungenen Schwanz … aber tatsächlich keinen Kopf.
«Zeichnen Sie alles genau auf», sagt sie, «ich nehme die Knochen dann mit ins Labor.»
«Bin gespannt, was wir als Nächstes finden», meint Ted vergnügt. «Den Kopflosen Reiter vielleicht?»
Teds ewige gute Laune, denkt Ruth auf dem Rückweg zu ihrem Graben, macht sie langsam richtig fertig.
Gegen Nachmittag taucht Clough auf. «Der Boss ist nach Sussex gefahren, um den Pfaffen zu befragen, der das Heim hier früher geleitet hat», verkündet er.
«Klasse Idee.» Ted nimmt einen Schluck aus seiner Feldflasche. «Schieben wir’s doch einfach dem perversen Priester in die Schuhe.»
Ruth ist es ein wenig unangenehm, dass Clough sie und die anderen mitten in der Kaffeepause angetroffen hat, doch der junge Sergeant setzt sich ganz selbstverständlich zu ihnen und lässt sich von Trace mit Keksen und von Ruth mit einer Tasse Kaffee versorgen. Sie sitzen nebeneinander auf einer niedrigen
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