Knochenhaus (German Edition)
misshandelt?»
«Nein, nie», antwortet Davies, und Nelson fragt sich, ob die Antwort nicht etwas zu schnell kam.
«Keine körperliche Züchtigung?», fragt Clough. «Das war in den Siebzigern doch noch ziemlich verbreitet.»
«Nein», wiederholt Davies leise. «Pater Hennessey glaubte an die Kraft der Güte.»
«Und was war mit den Nonnen? Den Klosterschwestern? Waren die nicht manchmal streng?»
Davies denkt einen Augenblick nach. «Doch, ja, sie konnten schon streng sein. Es gab zwar nie körperliche Gewalt, aber einige hatten ziemlich scharfe Zungen. Manche waren sehr lieb, Schwester James und Schwester Immaculata zum Beispiel. Aber die anderen … sie waren gut, aber nicht gütig, wenn Sie verstehen, was ich damit sagen will.»
«Dann wurde man also bestraft, wenn man sich schlecht benahm?», hakt Nelson nach.
Davies lächelt. «Na ja, wenn man sich so richtig schlecht benahm, wurde man zu Pater Hennessey geschickt, aber das war eigentlich eher Belohnung als Strafe. Er verdonnerte einen dazu, seine Küchenschränke auszumisten oder im Gemüsegarten Unkraut zu jäten. Für mich gehört die Gartenarbeit zu den schönsten Erinnerungen an das KHH.»
Nelson seufzt und wechselt die Taktik. «Kannten Sie die Geschwister Black? Martin und Elizabeth Black?»
Davies legt die Stirn in Falten. Schon in entspanntem Zustand hat er ein sorgenvoll faltiges Gesicht, doch jetzt ist es förmlich plissiert vom angestrengten Nachdenken. «Ja», sagt er schließlich. «Die sind verschwunden. Das war, kurz nachdem ich ins Heim gekommen war. Martin war ein gutes Jahr jünger als ich. Ein hochintelligenter Junge, das weiß ich noch.»
«Können Sie sich daran erinnern, wie die beiden verschwunden sind?»
«Tja, das hat natürlich gewaltige Aufregung verursacht. Gegen Abend hatten wir immer eine Stunde Freizeit, und ich kann mich noch erinnern, dass ich mich mit Martin unterhalten habe. Wir waren damals alle ganz verrückt nach diesen Fußball-Sammelbildchen und haben unsere Alben verglichen. Elizabeth war auch dabei, sie hat mit einem Stofftier gespielt. Ein Hund, wenn ich mich recht entsinne. Den hat sie ständig mit sich herumgeschleppt. Irgendwann war sie weg, und Martin ist sie suchen gegangen. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen. Als die Schwester zum Schlafengehen läutete, waren alle beide verschwunden.»
«Wie ging es dann weiter?»
«Pater Hennessey hat sich auf die Suche gemacht. Dann muss er wohl die Polizei gerufen haben. Ich weiß noch, wie ich befragt wurde; sie wollten wissen, wann ich Martin und Elizabeth zuletzt gesehen hätte. Ein paar Wochen lang kamen die Polizisten immer wieder und haben uns alle befragt. Schwester Immaculata war ganz entrüstet, weil sie uns einmal beim Rosenkranzbeten gestört haben. Dann kehrte langsam wieder Alltag ein. Wir haben weiter für Martin und Elizabeth gebetet, aber kaum noch über sie gesprochen. Und irgendwann haben wir sie dann vergessen. Sie wissen ja, wie Kinder sind.»
«Können Sie sich noch erinnern, ob die Polizisten das Grundstück abgesucht haben? Haben sie vielleicht gegraben?»
«Nein», sagt Davies zögernd. «An Grabungen kann ich mich nicht erinnern.» Dann hebt er abrupt den Kopf. «Geht es etwa darum? Haben Sie eine Leiche gefunden?»
«Das darf ich Ihnen leider nicht sagen», antwortet Nelson.
«Das Haus wird gerade abgerissen, stimmt’s?», sagt Davies. «Ich bin vor ein paar Tagen am Grundstück vorbeigegangen.»
«Es wird neu bebaut, ja.»
«Ein Jammer. Es war so ein schönes Haus. Mir kam es immer vor wie ein Schloss.»
«Tja.» Nelson wirft Clough einen Blick zu. «Mr. Davies, wären Sie vielleicht bereit, mit uns zum Grundstück zu kommen und sich dort ein bisschen umzusehen? Sie könnten uns sagen, wie das Haus früher ausgesehen hat. Wo welche Zimmer waren und so weiter.»
«Ja», sagt Davies. «Das mache ich gerne.»
Er steht auf und gibt den beiden Polizisten die Hand. Als er schon an der Tür ist, fragt ihn Clough: «Sie sagten, Pater Hennessey hätte Ihnen eine Lehrstelle verschafft. Was sind Sie denn von Beruf?»
Kevin Davies lächelt, und die Plisseefalten in seinem Gesicht schieben sich nach oben. «Ach, ich dachte, das wüssten Sie. Ich bin Bestatter.»
Judy Johnson schiebt einen Rollstuhl an der Strandpromenade von Southport entlang. Es ist Ebbe, und der Sandstrand erstreckt sich in Streifen aus Gold, Weiß und Silber bis weit in die Ferne. Er ist gespickt mit winzigen Gestalten, die Fischernetze und Eimer in den
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