Knochenhaus (German Edition)
ist fast so groß wie Nelson. «Natürlich habe ich darüber nachgedacht, ob jemand von außerhalb … Aber falls Sie damit andeuten wollen, dass jemand aus dem KHH … Niemals! Wir haben die Kinder alle vergöttert. Vor allem die kleine Elizabeth. Sie war … der reinste Engel.»
Im Gegensatz zu Martin, vermutet Nelson. Laut sagt er: «Wir werden die Ermittlungen fortsetzen. Vielen Dank, Vater. Sie waren mir eine große Hilfe.»
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz sagt Hennessey: «Sie meinten, das Skelett stamme allem Anschein nach von einem Kind … Haben Sie eine Vermutung, wie alt dieses Kind war?»
«Nein», sagt Nelson. «Die Knochen liegen noch im Boden, wir konnten sie also noch gar nicht richtig analysieren. Außerdem fehlt der Kopf.»
«Der Kopf fehlt?»
«Ja. Wir wissen noch nicht genau, weshalb.»
«Wir leben in einer sonderbaren und grausamen Welt, Detective Chief Inspector.»
«Das können Sie laut sagen.»
Als sie bei Nelsons Wagen sind, gibt der Priester ihm wieder die Hand, und während sie einander mit schraubstockartigem Griff umklammert halten, sagt er: «Mir scheint, Sie sind katholisch, Detective Chief Inspector.»
Nelson lässt die Hand sinken. «Wie kommen Sie denn darauf?»
Hennessey antwortet mit zuckersüßem Lächeln. «Weil Sie ‹Vater› zu mir gesagt haben. Einfach so. Jeder andere hätte Pater Hennessey gesagt oder auch Pater Patrick, wenn es ein bisschen plump-vertraulich sein soll.»
«Ich war seit Jahren nicht mehr in der Kirche», sagt Nelson.
«Sie sollten Gott nie ganz aufgeben.» Der Priester lächelt immer noch. «Schließlich gibt es ja immer noch den Ruck am Faden. Gott segne Sie, mein Sohn.»
Zurück auf dem Revier, googelt Nelson «Ruck am Faden» und stößt nach einigem Suchen auf ein Zitat von Gilbert Keith Chesterton: «Ich habe ihn mit einem unsichtbaren Haken an einer unsichtbaren Leine gefangen, die lang genug ist, ihn bis ans Ende der Welt wandern zu lassen, und die ihn doch mit einem einzigen Ruck am Faden zurückbringen kann.»
«Bockmist», brummt Nelson und schaltet den Computer aus.
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8
Auf dem Baugrundstück an der Woolmarket Street hockt Ruth und gräbt, umgeben von Planierraupen. Sie arbeitet fast wie in Trance. Die Sonne wärmt ihr den Rücken, und wie aus weiter Ferne hört sie Ted und Trace, die sich über das gestrige Fußballspiel unterhalten. Aus Ruths Sicht könnten sie sich ebenso gut auf einem anderen Planeten befinden. Sie konzentriert sich mit jeder Faser ihres Seins auf das Skelett unter der Türschwelle. Den Boden über den Knochen hat sie bereits abgetragen, bis die Wirbelsäule sichtbar wurde. Die Leiche hockt zusammengekauert da, mit angezogenen Beinen, die Arme um die Knie geschlungen. Jetzt ist auch nicht mehr zu übersehen, dass der Kopf tatsächlich fehlt, auch wenn Ruth die Knochen erst noch genauer untersuchen muss, um sagen zu können, ob die Enthauptung auch die Todesursache war.
Vorsichtig klettert sie auf den Rand des Grabens, um das Skelett aus einer anderen Perspektive zu fotografieren. Neben den Knochen liegt eine Messlatte. Durch die gekrümmte Haltung ist die Leiche nicht einmal einen Meter groß. Ein Kind, denkt Ruth, obwohl sie weiß, dass sie mit solchen Einschätzungen vorsichtig sein muss. Es könnte ja ein erwachsener Mensch mit Wachstumshemmung sein; auch darüber werden die Knochen Aufschluss geben.
Es wird eine Obduktion geben: Das ist so üblich, wenn menschliche Überreste gefunden werden. Gleichzeitig wird Ruth mit der Analyse der Knochen beginnen. Der Vorgang ist längst Routine, sie schätzt ihn allerdings nicht sonderlich. Die sterile Atmosphäre, die beiläufigen Witzchen der Pathologen, der Geruch nach Formaldehyd und Desinfektionsmittel – das alles mag sie überhaupt nicht. Sie muss daran denken, was Erik immer gesagt hat: «Die Erde ist voller Güte. Sie nährt uns, schützt uns, und in ihren Schoß kehren wir zurück.» Ruth ist im Begriff, diese Knochen der gütigen Erde zu entreißen, und fühlt sich schuldig deswegen. Früher einmal war Erik der Mensch, den Ruth auf Erden am meisten bewunderte, doch die Sache am Salzmoor hat sie gezwungen, ihn und noch manch anderes in einem völlig neuen Licht zu sehen. Jetzt ist Erik tot, sein Leichnam wurde auf einem dunklen See in Norwegen zu Asche verbrannt, und Ruth muss ihre Arbeit tun. Sie pinselt Erde von dem freigelegten Brustkorb. Bei erwachsenen Menschen geben Becken und Brustkorb Aufschluss über das Geschlecht
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