Knochenhaus (German Edition)
steht kein weiterer Wagen, und Ruth weiß nicht recht, ob sie erleichtert oder enttäuscht darüber ist. Sie hat Max seit der Imbolc-Feier nicht mehr gesehen und fragt sich, ob es nicht seltsam sein wird, ihn wiederzutreffen. Hat der Kuss ihm irgendetwas bedeutet? Sicher nicht. Bestimmt küsst man sich in Brighton bei jeder Gelegenheit auf den Mund. Aber es hat sie schon beschäftigt. Nicht ständig, versteht sich, sie hat schließlich genug anderes im Kopf, aber doch deutlich häufiger, als ihr lieb ist. Alles in allem ist sie also froh, alleine dort zu sein.
Sie nimmt ihre Taschenlampe aus dem Handschuhfach und erklimmt den Hang, der zur Ausgrabungsstätte führt. Die Studenten waren sichtlich fleißig. Es sind drei neue Gräben hinzugekommen, und kleinere Steinansammlungen weisen darauf hin, dass auch neue Gebäude entdeckt wurden. Offenbar gab es hier wirklich eine kleine Siedlung oder zumindest eine größere römische Villa mit Nebengebäuden. Fasziniert klettert Ruth in einen Graben hinunter.
Unten merkt sie, dass es derselbe Graben ist, den Max ihr bei ihrem ersten Besuch gezeigt hat: Er wurde inzwischen erweitert, sodass eine Mauerecke freiliegt sowie ein Gebilde, das ganz nach den Überresten einer unterirdischen Heizanlage aussieht. Dann muss es wohl ein herrschaftliches Haus gewesen sein. Ruth kann ein Stückchen Mosaik erkennen. Ihre Gedanken schweifen kurz zu den Menschen ab, die sich hier, auf diesem ungeschützten Hang, vor zweitausend Jahren niedergelassen haben. Ob es römischstämmige Briten waren oder exilierte Römer? Kein Wunder, dass sie sich ein Heizsystem eingebaut haben, denkt Ruth und fröstelt in der Abendluft.
Sie will schon wieder aus dem Graben klettern, lässt den Lichtstrahl der Taschenlampe dann aber aus reiner Gewohnheit noch einmal über die Grundmauern wandern, um zu sehen, ob ihr etwas Seltsames oder Ungewöhnliches auffällt. Und da sieht sie es. Kleine rotbraune Buchstaben, kaum zwei Zentimeter hoch. Erst kann sie nicht lesen, was da steht, obwohl ihr das Schriftbild irgendwie bekannt vorkommt. Dann merkt sie, dass die Buchstaben auf dem Kopf stehen. Sie neigt den Kopf zur Seite und liest: Ruth Galloway.
Später kann sie nicht mehr genau sagen, was genau sie daran so furchtbar erschreckt hat. Es hing auf irgendeine seltsame Weise mit der Größe der Buchstaben zusammen, so als wäre ein winziges böses Wesen zwischen den Steinen und dem Schutt hervorgekrochen und hätte ihren Namen dorthin geschrieben. Aber warum? Sie hat doch nur am Rande mit dieser Ausgrabung zu tun. Wozu sollte sich jemand die Mühe machen, ihren Namen an die Wand einer x-beliebigen archäologischen Ausgrabungsstätte zu schreiben, verkehrt herum auch noch und so klein, dass man ihn kaum sieht? Ruth hat keine Antwort auf diese Frage, weiß aber sehr genau, dass sie keinesfalls länger hierbleiben und dem Giftzwerg womöglich noch persönlich guten Tag sagen will. Mit hämmerndem Herzen richtet sie sich auf.
Im selben Moment überfällt sie das sichere Gefühl, dass man sie beobachtet. Sie fährt herum, und der Lichtstrahl der Taschenlampe beschreibt einen weiten Bogen der Panik um sie. «Ist da jemand?»
Keine Antwort. Nur Schritte, eindeutig, die über den Schotter eines anderen Grabens kommen. Ruth kraxelt aus ihrem Graben heraus und leuchtet mit der Taschenlampe in die Dunkelheit. Jetzt hört sie noch ein weiteres Geräusch, ein langsames, gleichmäßiges Keuchen. Da atmet jemand, ganz in ihrer Nähe.
Ruth lässt allen vorgeschützten Mut fahren. Die Taschenlampe vor sich, rennt sie Hals über Kopf den Hang hinunter. Jetzt ist sie kein sorgsames Gefäß mehr, das ihr Baby transportiert, sondern einfach nur noch eine verängstigte Frau, die sich in Sicherheit bringen will. Das Baby wird sich wohl oder übel damit arrangieren müssen. Sie stolpert, fällt fast hin. Großer Gott, wo ist bloß ihr Wagen? Dann sieht sie die tröstlichen Lichter des Phoenix, die ihr zeigen, dass sie in die richtige Richtung läuft. Keuchend verlangsamt sie ihre Schritte ein wenig für den Rest der Strecke. Da ist ihr Wagen. Ihre wunderbar treue kleine Rostlaube. Doch gleich darauf bleibt sie wie angewurzelt stehen. Ihr stockt das Blut in den Adern.
Neben dem Wagen steht eine dunkle Gestalt. Ein Mann.
Ruth schreit laut auf.
«Ruth? Es ist alles gut. Ich bin’s.» Es ist Max Grey.
Irgendwo schreit jemand weiter, bis Ruth beschämt feststellen muss, dass sie das selber ist. «Max», stößt sie keuchend hervor. Er ist
Weitere Kostenlose Bücher