Knochenhaus (German Edition)
liebevolle Botschaften aufs T-Shirt. Macht doch nicht so einen Aufstand, möchte sie ihnen am liebsten zurufen. Ihr seht euch doch schon im September wieder. Aber sie weiß selbst noch genau, wie das war, den ganzen langen Sommer vor sich zu haben, zu jobben, zu reisen oder einfach nur herumzuhängen und den Eltern auf die Nerven zu fallen. Mit achtzehn sind vier Monate eine Ewigkeit. Wenn die Studenten wiederkommen, ist Ruth im siebten Monat. Laut dem Ausdruck in ihrer Handtasche soll das Baby am ersten November zur Welt kommen.
Die Studenten mögen Ferien haben, doch Ruth nicht. Sie muss Abschlussarbeiten korrigieren, die Vorlesungen für das kommende Studienjahr vorbereiten. Sie geht die Treppe zu ihrem Büro hinauf und ist gerührt, dort zwei Studenten vorzufinden, die sich von ihr verabschieden wollen. Ruth unterrichtet die fortgeschrittenen Studenten, die in der Regel einen einjährigen Master-Studiengang absolvieren, und sieht sie jetzt also tatsächlich zum letzten Mal – vor allem diese beiden, die aus den Vereinigen Staaten stammen. Ruth hat viele Studenten aus Übersee: Die zusätzlichen Einnahmen sind der Universität hochwillkommen.
«Auf Wiedersehen … viel Glück … Wir bleiben in Kontakt … Und falls Sie jemals in Wisconsin sind, kommen Sie doch vorbei …»
Schließlich gelingt es Ruth, sich loszueisen. Sie schließt die Bürotür auf und macht sich daran, Bücher und Unterlagen zusammenzusuchen. Als sie sich in ihrem Büro umschaut, das Indiana-Jones -Plakat und die Stapel aus Büchern und Prüfungsunterlagen betrachtet, verspürt sie einen Moment lang reine Freude. Hier zumindest ist sie immer noch Doktor Ruth Galloway, Archäologin, und nicht Ms. Ruth Galloway, werdende Mutter (und dazu noch «Spätgebärende», wie sie entsetzt in ihrem Mutterpass gelesen hat). Sie ist Akademikerin, berufstätig und vollkommen eigenständig. Jetzt wird sie sich erst mal ein paar Tage zu Hause erholen und gemütlich in ihren Büchern über Knochen, Verwesungsprozesse und Tod schmökern.
«Hallo, Ruth! Wie geht es dir?» Phil steht in der Tür.
Er weiß inzwischen, dass Ruth schwanger ist, und gibt sich verständnisvoll. Was sich darin äußert, dass er die Stimme senkt, wenn er mit ihr redet, und sich bei jeder Gelegenheit nach ihrem Befinden erkundigt.
«Wie war’s denn?» Natürlich meint er die Ultraschalluntersuchung (Ruth musste ihm davon erzählen, weil sie deswegen nicht am abschließenden Fachbereichsmittagessen teilnehmen konnte), doch Ruth versteht ihn absichtlich falsch.
«Die Obduktion? Ganz gut. Der neue Pathologe ist ein bisschen übereifrig und zieht ständig vorschnelle Schlüsse, aber …»
«Nein, ich meine … im Krankenhaus.»
«Ach so. Gut, danke.»
«Keine Probleme oder so etwas?»
«Nein.»
Phil bleibt mit penetrantem Lächeln im Türrahmen stehen. Ruth will ihn eigentlich nur loswerden.
«Fährst du diesen Sommer weg?», fragt er.
«Nein. Du?»
«Na ja …» Phil wirkt ein wenig peinlich berührt. «Vielleicht fahren Sue und ich für ein paar Tage in unser Haus nach Frankreich.» Ruth überlegt, was Shona wohl dazu sagen wird. Letzten Berichten zufolge hat Phil vor, seine Frau «nach der letzten Kommissionssitzung» zu verlassen. Was es mit diesem reichlich willkürlichen Termin auf sich hat, ist Ruth schleierhaft; sie weiß nur, dass Shona sich daran klammert wie an ein Heilsversprechen. Dabei, denkt sie zynisch, fangen Shonas Probleme eigentlich erst an, wenn Phil Sue tatsächlich verlässt.
«Wolltest du heute zufällig noch bei den Ausgrabungen in Swaffham vorbeischauen?», wechselt Phil eifrig das Thema. «Ich höre, die haben da ein paar hochinteressante Entdeckungen gemacht.»
«Vielleicht.» Eigentlich wollte sie direkt nach Hause fahren. Der Rücken tut ihr weh, sie würde sich gern ein bisschen hinlegen. Doch Phil ist Feuer und Flamme für Max’ Ausgrabungsprojekt. Die alten Römer sind schließlich immer eine Art Lottogewinn. Womöglich springt dabei für ihn sogar ein Fernsehauftritt heraus.
«Bestens. Kannst du mir ein paar Bodenproben mitbringen?»
Verflixt. Jetzt muss sie den Umweg über Swaffham nicht nur tatsächlich machen, sondern auch noch stundenlang mit Probenbeuteln herumhantieren. Warum macht Phil das eigentlich nicht selber? Wahrscheinlich ist er mit Shona verabredet.
«Kann ich machen», sagt sie.
Als Ruth an der Ausgrabungsstätte ankommt, wird es bereits dunkel. Auf dem mit Reifenspuren übersäten Areal am Fuß des Hanges
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