Knochenhaus (German Edition)
gerade begann, aber sie erinnert sich noch an den Vorspann: eine Schlange, die langsam über ein römisches Mosaik glitt. Ihre Eltern erklärten die Sendung für widerlichen Schund – «So werden also unsere Rundfunkgebühren verschwendet. Man sollte sich bei Mary Whitehouse beschweren!» –, doch Ruth hat den starken Verdacht, dass sie sie doch heimlich ansahen, sobald sie im Bett war.
«Was ist denn damit?», fragt sie jetzt.
Max seufzt. «In dem Buch tötet der junge Caligula seinen Vater, Claudius’ Bruder Germanicus. Und zwar indem er ihn im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode ängstigt.»
Ruth schweigt und sieht erneut die Schlange vor sich, die über den Mosaikboden kriecht. Plötzlich kommt ihr das alles höchst irreal vor, als wäre sie selbst in eine Fernsehserie geraten: eine unwirkliche Geschichte, deren verstörende Bilder nur dazu dienen, empfindsamere Zuschauer zu schocken.
«Er macht sich», fährt Max fort, «den Aberglauben des Germanicus zunutze. Er stiehlt ihm seinen Talisman, ein grünes Jadefigürchen der Hekate. Er verteilt tote Tiere im Haus, blutverschmierte Hahnenfedern, und schreibt Zeichen und Zahlen an die Wände, die Unglück bringen, manchmal ganz weit oben, aber manchmal …» Er sieht Ruth an. «… manchmal auch ganz unten, als stammten sie von der Hand eines Zwergs. Und schließlich erscheint Germanicus’ Name an der Wand, verkehrt herum. Jeden Tag verschwindet ein Buchstabe davon. Und an dem Tag, an dem nur noch das G übrig ist, stirbt Germanicus.»
Es ist still im Raum. Flint springt laut schnurrend auf das Sofa, und Ruth gräbt die Hand in sein weiches bernsteinfarbenes Fell.
«Glaubst du im Ernst», fragt sie schließlich, «dass da jemand versucht, mir Angst zu machen, und sich bei Ich, Claudius Ideen holt?»
Max zuckt die Achseln. «Ich weiß es nicht. Es war einfach das Erste, was mir dazu einfiel. Denk an den toten Hahn …»
«Dann suchen wir also einen durchgedrehten Ranke-Graves-Fan?»
Max muss lachen. «Oder jemanden, der auf Fernsehklassiker abfährt. Ich weiß es doch auch nicht, Ruth. Aber offensichtlich will dir jemand Angst einjagen.»
«Um mich von dem Baugrundstück in Norwich fernzuhalten?»
«Möglich. Es ist ja kein Geheimnis, dass du an der Ausgrabung beteiligt bist. Und bei diesem anderen Fall, der Sache mit Lucy Downey, warst du doch auch sehr involviert, nicht?»
Ruth gibt keine Antwort. Sie hat immer versucht, sich so weit wie möglich im Hintergrund zu halten – niemand außer Nelson weiß beispielsweise, dass es Ruth war, die Lucy gefunden hat, und nicht die Polizei –, doch vermutlich spricht sich so etwas zwangsläufig herum. Und selbst wenn nicht, ist es doch nicht weiter schwierig, sich zusammenzureimen, dass sie als leitende forensische Archäologin der Universität an beiden Fällen beteiligt sein muss.
«Da muss derjenige sich aber schon etwas mehr anstrengen», sagt sie schließlich.
Max lächelt. «Ein Glück.» Sie schweigen erneut, und diesmal fühlt sich die Stille ganz anders an. Dann sagt er in fast schüchternem Ton: «Ruth, kann ich dich mal zum Abendessen einladen? Nächste Woche vielleicht? Nicht ins Phoenix, sondern irgendwohin, wo es schöner ist.»
Ruth sieht ihn an, wie er da ganz entspannt auf ihrem altersschwachen Sofa sitzt, die langen Beine übereinandergeschlagen. Flint neben ihr schnurrt immer lauter. Sie sollte ablehnen. Sie ist schwanger. Solche Komplikationen kann sie nun wirklich nicht auch noch brauchen. Max lächelt sie an, und zum ersten Mal fällt ihr auf, dass ihm ein kleines Stück Schneidezahn fehlt.
«Ja», sagt sie. «Gerne.»
Als er fort ist, fühlt Ruth sich so müde, dass sie sofort schlafen geht, ohne vorher nachzusehen, ob Flint für die Nacht genug zu fressen hat (prompt weckt er sie später, um sich in Erinnerung zu bringen). Vom Bett aus hört sie, wie sich Max’ Range Rover langsam auf der schmalen Straße entfernt. Zehn Minuten später springt draußen das Licht wieder an. Doch Ruth steht nicht noch einmal auf.
19. Juni
Festtag der Minerva
Ich muss planvoll vorgehen. Ich darf nicht ex abrupto handeln. Und so habe ich mein Messer so gut geschliffen, dass mir seine Klinge nützliche Dienste erweisen wird. Ich habe die Axt, die ich später für den Kopf benötige. Und ich frage mich, ob ich nicht auch eine Art Betäubungsmittel brauchen werde, damit das Kind nicht schreit. So etwas ist allerdings nicht ganz leicht zu beschaffen. Vielleicht kann mir ja der Zahnarzt helfen,
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