Knochenhaus (German Edition)
Jammer. Es war eine hervorragende Schule.»
«Waren Sie selber auch dort?»
«Ja. Es war ja die Schule meines Vaters, wissen Sie?» Er mustert Nelson aufmerksam, als würde er eine Falle vermuten. «Meine Mutter wollte, dass ich nach Eton gehe, aber mein Vater hat sich durchgesetzt. Sein Wort war Gesetz bei uns daheim.»
Nelson versucht vergeblich, sich vorzustellen, dass eine seiner Töchter etwas Ähnliches über ihn sagt. «Und Ihre Schwester … Annabelle. War sie auch auf der Schule?»
Roderick macht ein verwirrtes Gesicht. «Annabelle?»
Edward Spens schaltet sich ein. «Schon gut, Vater.» Dann wendet er sich an Nelson. «Es regt meinen Vater immer noch sehr auf, über sie zu reden. Sie starb als Kind, müssen Sie wissen.»
Nelson spitzt die Ohren. «Wie alt war sie denn?»
«Fünf oder sechs, soviel ich weiß.»
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21
Ruth ist wieder auf dem Grundstück an der Woolmarket Street. Ab morgen sollen die Bauarbeiten fortgesetzt werden, und sie will vorher noch die verbliebenen Fundstücke einsammeln. Die anderen Gräben haben zwar nichts Aufregendes mehr zutage gefördert: ein paar Ton- und ein paar Glasscherben, etliche Münzen. Aber vielleicht ist ja doch noch etwas Interessantes darunter, und außerdem muss sie sich auch überzeugen, dass die Ausgrabungen ordentlich vonstattengegangen sind. Das ist ihre Aufgabe als leitende Archäologin. Es ist erneut sehr warm, und Ruth ist erstaunt, wie harmlos das Baugrundstück im Sonnenlicht wirkt. Trotzdem schaut sie sich alle paar Minuten um und zuckt heftig zusammen, als ein Eichhörnchen direkt vor ihr über eine Mauer flitzt.
Obwohl sie nach wie vor ihr kesses Pflaster über dem Auge trägt, fühlt sich Ruth erstaunlich gut nach den samstäglichen Erschütterungen. Der jugendliche Arzt hat ihr eingeschärft, über Nacht möglichst nicht allein zu bleiben; «falls Sie doch noch ins Koma fallen», lautete seine ermutigende Formulierung. Doch Ruth war so erschöpft, dass sie um neun ins Bett gegangen ist und nur mit Flint zur Gesellschaft tief und fest geschlafen hat. Sie ist überzeugt, dass sie diesen friedlichen Schlaf vor allem dem Gespräch mit Nelson verdankt. Jetzt weiß er Bescheid. Vermutlich plagt er sich bereits mit Sorgen und Konflikten und Ähnlichem herum, und vermutlich wird er sie künftig in den Wahnsinn treiben, weil er sich in jedes Stadium der Schwangerschaft einmischen wird, doch immerhin weiß er nun Bescheid. Ruth ist nicht mehr nur auf sich allein gestellt. Heute Morgen hat sie außerdem noch ein zivilisiertes, wenn auch leicht gezwungenes Telefonat mit ihrer Mutter geführt. Ruth hat kein Wort über die Ereignisse der letzten Wochen verloren, ihrer Mutter aber wahrheitsgemäß versichern können, dass ihr nicht mehr so oft übel ist, sie wieder mehr Energie hat und sich auch nicht übermäßig bei ihren «schrecklichen Ausgrabungen» verausgabt. «Mir ging es ja bei beiden Schwangerschaften die ganze Zeit über blendend», hat ihre Mutter selbstgefällig erklärt, und Ruth gönnt ihr diesen kleinen Triumph von Herzen.
Auf dem Baugrundstück ist kein Mensch. Eigentlich hatte Ruth damit gerechnet, zumindest Ted den Iren und Trace hier anzutreffen. Offiziell müssten sie die Gräben wieder zuschütten, aber vielleicht haben sie ja beschlossen, sich das zu sparen, nachdem die Reste des Hauses ohnehin bald dem Erdboden gleichgemacht werden. Ruth holt die Fundstücke aus der Baracke des Poliers, der glücklicherweise ebenfalls weit und breit nicht zu sehen ist. Sie betrachtet den Torbogen, der sich gegen den blauen Himmel abhebt. Omnia mutantur, nihil interit. Sie darf nicht vergessen, Nelson zu bitten, dass er überprüfen lässt, wann der Torbogen errichtet wurde. Er ist ein merkwürdig hochtrabendes Element für ein Privathaus. Ruth muss an die römischen Generäle denken, zu deren Ehren Triumphbögen gebaut wurden, wenn sie einen großen Sieg errungen hatten. Dann fällt ihr wieder ein, wie sie vor ein paar Jahren mit Shona in Rom war und den Titusbogen auf dem Forum Romanum besichtigt hat, der mit Reliefdarstellungen von Titus’ Triumph über die aufständischen Juden verziert ist. Im Reiseführer stand, der Legende nach könne kein Jude unter diesem Bogen durchgehen. «Ich schon», rief Shona und rannte lachend unter dem Bogen hin und her. «Du bist aber keine Jüdin», gab Ruth zu bedenken. Doch Shona hatte damals gerade eine Affäre mit einem jüdischen Juradozenten und fand, das zähle durchaus.
Eigentlich
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