Knochenhaus (German Edition)
müsste Ruth auch noch den Graben inspizieren, in dem das Katzenskelett gefunden worden war, doch sie verspürt einen gewissen Widerwillen, bis ans Ende des Grundstücks zu gehen, sich so weit von der Hauptstraße zu entfernen. Die Stille lastet schwer und wachsam auf dem Gelände. Sei nicht albern, ruft Ruth sich zur Ordnung, es ist schließlich heller Tag. Was soll dir schon passieren? Sie schultert ihren Rucksack und bahnt sich vorsichtig einen Weg durch den Bauschutt, vorbei an den Nebengebäuden bis in den einstigen Garten. War das wirklich einmal der glückliche Ort, an den sich Kevin Davies zu erinnern glaubt? Ruth versucht, sich die Kinder vorzustellen, die lachend durch den Garten tollen, auf den Baum klettern und Münzen in den Brunnen werfen. Aber nein, der war ja damals schon zubetoniert. Sie nähert sich dem Brunnenschacht und beugt sich darüber. Ein unangenehm modriger Geruch schlägt ihr entgegen, und sie richtet sich hastig wieder auf. Wann der Brunnen wohl verschlossen wurde? Eine weitere Frage für Nelson. Die Schädel müssen jedenfalls dort versteckt worden sein, bevor der Betondeckel angebracht wurde. Die Schädel im Brunnen. Es klingt irgendwie verrückt, verschoben, wie die Albtraumversion eines Kinderlieds. Die Kinder am Strand fallen ihr wieder ein. Ringel-rangel-runnen.
Der Graben mit der Katze liegt direkt an der Außenmauer, die bereits unter der Last ihrer Jahre einsackt. Das ist die Grenze. Terminus, der Gott der Grenzen. Zu dem bete ich auch immer, wenn ich am Flughafen bin. Das hat Nelson gesagt, als er den Namen zum ersten Mal gehört hat. Irgendwie kann sie sich Nelson nicht recht im Urlaub vorstellen. Sie ist sich sicher, dass Michelle auf irgendeinem glamourösen, sonnendurchfluteten Badeort beharrt, während Nelson eigentlich eher in eine wildere, kühlere Umgebung passt, in die Moore von Yorkshire beispielsweise oder die schottischen Highlands. Sie sieht ihn vor sich, wie er bis zur Taille in einem eiskalten Bergsee steht.
Ruth richtet sich wieder auf, streckt den Rücken. Inzwischen ist es richtig heiß geworden, kein Lüftchen regt sich. Sie klettert aus dem Graben und geht an der Außenmauer entlang. Offenbar werden die neuen Gebäude bis direkt an diese Grenze heranreichen. So viel zum Thema geräumige Apartments. Die neuen Wände wirken forsch und selbstgefällig neben dem bröckelnden alten Feuersteingemäuer. Doch mittendrin stehen noch ein paar Apfelbäume, und ganz hinten, im äußersten Winkel des Grundstücks, entdeckt Ruth ein paar Stachel- und Johannisbeerbüsche, von Disteln bedrängt und staubig von den Bauarbeiten. Auch ein paar Brombeersträucher sind dazwischen und recken ihre Ranken wie winzige, trotzige Finger empor. Noch blühen sie nicht einmal, und wenn die Beeren eigentlich reif wären, werden diese Sträucher längst ausgerissen sein, um dem geplanten «attraktiven Landschaftsgarten mit Wasserspielen» Platz zu machen.
«Brombeer- und Apfelkuchen», sagt eine Stimme hinter ihr. «Ein geradezu königliches Festmahl.»
Ruth fährt herum. Hinter ihr steht ein älterer Herr im dunklen Anzug und lächelt sie an. Er hält einen unreifen Apfel in der Hand, und einen närrischen Augenblick lang muss Ruth an Adam im Garten Eden denken. Ein trübsinniger, gealterter Adam, der zurückgekehrt ist, um die Zerstörung des Paradieses zu betrauern. Dann bemerkt sie das Kollar an seinem Kragen, und ihr Gehirn nimmt seine gewohnte Tätigkeit wieder auf.
«Pater Hennessey?»
«Genau.» Der Mann streckt ihr die Hand hin. «Anscheinend haben Sie mir gegenüber einen kleinen Wissensvorteil.»
«Ruth Galloway. Ich bin Archäologin.»
«Archäologin?»
«Mein Spezialgebiet ist forensische Archäologie.»
«Ach so.» Hennessey scheint zu begreifen. «Dann sind Sie also auch in diese tragische Angelegenheit verwickelt?»
«Ja.»
Pater Hennessey seufzt. Nach Nelsons Beschreibung hat Ruth ihn sich irgendwie aggressiver vorgestellt, etwa so wie einen der Priester ihrer Kindheit, die Tod und Verderben von der Kanzel herab predigten. Doch dieser Mann sieht eigentlich nur traurig aus.
«Die Bauarbeiten sind schon weiter fortgeschritten, als ich dachte», sagt er. «Wie in aller Welt wollen die das denn alles auf einem einzigen Grundstück unterbringen?»
«Indem sie es so klein wie möglich halten», erwidert Ruth trocken. «Wahrscheinlich sind die fertigen Wohnungen am Ende nicht mal so groß wie das Wohnzimmer des ursprünglichen Hauses.»
«Da werden Sie wohl recht
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