Knochenhaus (German Edition)

dann in ihrer ganzen satten und geschniegelten Pracht vor einem auftauchen, wenn man fast am Ende der Auffahrt ist. Nelson fährt langsam auf Edward Spens’ Haus zu, vorbei an einem abgedeckten Swimmingpool und einem Kinderspielhaus, das aussieht, als hätte man dafür eine eigene Baugenehmigung einholen müssen. Eine Sprinkleranlage plätschert über den makellos gepflegten Rasen, und als Nelson vor dem Haus hält, eilt ein Gärtner an ihm vorbei, bewaffnet mit den nötigen Utensilien zum Erste-Hilfe-Einsatz bei Pflanzen. Nelson registriert erfreut, wie wenig sein Mercedes in dieses großbürgerliche Bild passt.
    Nach den Enthüllungen des gestrigen Tages steht er immer noch etwas unter Schock. Eigentlich waren es ja gar keine Enthüllungen – eher Bestätigungen. So viel Pech muss man aber auch erst mal haben. Da hat er einmal im Leben einen One-Night-Stand, und zack!, schon wird er wieder Vater. Andere Männer, das weiß er von Cloughie, vögeln ständig in der Gegend herum, ohne dass es irgendwelche Folgen hätte. Warum zum Teufel hat er nicht an Verhütung gedacht? Und warum hat Ruth nicht daran gedacht? Seine Gefühle für sie schwanken zwischen Wut, Bewunderung und einem schier herzzerreißenden Mitgefühl. Er bewundert ihre Entschlossenheit, das Baby zu bekommen, und ist ihr dankbar, weil sie anscheinend nichts von ihm erwartet. Doch irgendwie irritiert ihn das auch. Ruth scheint zu glauben, dass sie dieses Kind einfach so bekommen und allein großziehen kann, während er hin und wieder ein Geburtstagsgeschenk vorbeibringt. Doch anders als sie weiß er bereits, dass Kinder auch sehr einsam machen können. Er weiß, wie sehr Michelle oft zu kämpfen hatte, vor allem nachdem sie hierher in den Süden gezogen waren. Damals musste er immer lange arbeiten, und sie war den ganzen Tag mit den Kindern allein. Ruth wird niemanden haben, an den sie sich wenden kann, nur ihre frömmlerischen Eltern und diese durchgeknallte Freundin. Vielleicht springt Cathbad ja als Babysitter ein. Aber das ist doch kein Leben für seinen Sohn.
    Sein Sohn. Allen gängigen Vermutungen zum Trotz hat Nelson sich eigentlich nie einen Sohn gewünscht. Seine Töchter machen ihm große Freude. Es gefällt ihm, dass sie so anders sind und sich oft so vollständig hinter geheimnisvollen weiblichen Ritualen verschanzen. Es stört ihn nicht einmal, zu Hause in der Minderheit zu sein, denn das ist ein ganz entspanntes Dasein («Das sind Frauensachen, Dad, davon verstehst du nichts.»). Aber ein Sohn … ein Sohn bringt alle möglichen längst verschütteten Gefühle wieder an die Oberfläche. Nelson hatte kein besonders enges Verhältnis zu seinem Vater. Er war der einzige Junge in der Familie (er hat zwei ältere Schwestern, ein Muster, das sich jetzt wohl wiederholen wird) und hat schon früh begriffen, dass sich an diese Rolle bestimmte Erwartungen knüpfen. Anders als seine Schwestern brauchte er nicht brav zu sein, dafür aber robust und sportlich; er sollte Schwierigkeiten haben, seine Gefühle zu äußern, und für Fußball schwärmen. Und im Großen und Ganzen hat Nelson diese Erwartungen auch erfüllt. Er hat sein anfängliches Interesse für Pferde, das sein Vater mit großer Sorge beobachtete, unterdrückt und ist ein echter Fußball-Fan geworden, hat in der Schul- und später in der Bezirksmannschaft gespielt. Sein Vater war bei jedem Spiel dabei und brüllte von der Seitenlinie unverständliche Anweisungen, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst nie gespielt hatte. Er hatte einen verkrüppelten Fuß, weil er als Junge an Kinderlähmung erkrankt war, und ging am Stock. Ob sich diese Behinderung wohl irgendwie auf seine Vorstellung von Männlichkeit ausgewirkt hat? War es ihm deshalb so ungeheuer wichtig, dass sein Sohn ein guter Sportler wurde? Nelson hat ihn das alles nie gefragt, und jetzt ist es längst zu spät. Sein Vater starb, als Nelson fünfzehn war. Archie Nelson hat nicht mehr erlebt, dass sein Sohn zur Polizei gegangen ist, obwohl ihn diese Berufswahl sicher begeistert hätte.
    Den größeren Einfluss hat Nelsons Mutter Maureen auf ihn ausgeübt. Sie ist eine temperamentvolle Irin, hat ihre Kinder oft angebrüllt und ihnen hin und wieder auch mal eine gelangt. Archie hingegen hat nie die Hand oder auch nur die Stimme erhoben, außer an der Seitenlinie natürlich. Und trotzdem stand Nelson seiner Mutter sehr viel näher. Als er in der Pubertät war, hatten sie einen Riesenkrach nach dem anderen, und doch wusste er immer,