Knochenhaus (German Edition)
Marion zu reden; irgendwie hat er den Eindruck, dass sie vielleicht mehr preisgeben würde als ihr Mann. Doch Edward sieht das anscheinend anders.
«Kein Problem. Nehmen Sie Ihren Kaffee mit, dann gehen wir in mein Arbeitszimmer. Wenn du uns bitte entschuldigen würdest, Schatz.»
Das Arbeitszimmer ist erwartungsgemäß ganz in Leder und dunklem Holz gehalten. Im Bücherregal stehen jungfräulich gebundene Hardcover und sichtlich zerlesene Taschenbücher. Die Wände haben die Farbe zu kurz gebratenen Rindfleischs.
Spens nimmt hinter dem Schreibtisch Platz, Nelson setzt sich auf den Stuhl, der offensichtlich Besuchern vorbehalten ist. Vom Schreibtisch lächelt ihm die Familie entgegen, an der Wand hängt das Bild einer Rugby-Mannschaft. Nelson würde jede Wette eingehen, dass Spens in der Mitte steht und den Pokal in der Hand hält.
«Also, Harry, das klingt ja alles höchst geheimnisvoll.»
«Keineswegs, Mr. Spens. Es ist nur ein Strang meiner Ermittlungen. Seit wann besitzt Ihre Familie denn das Haus an der Woolmarket Street?»
«Seit 1850. Es wurde von meinem Ururgroßvater Walter Spens erbaut.»
«Ich interessiere mich vor allem für den Zeitraum zwischen 1949 und 1955. Wer lebte damals im Haus?»
«Mein Großvater Christopher Spens mit seiner Frau Rosemary und den Kindern Roderick und Annabelle.»
«Und Roderick ist Ihr Vater?»
«Sir Roderick, ja.»
«Ich würde gern mit ihm reden. Wohnt er auch hier in der Nähe?»
Edward zögert kurz und fingert an einem Managerspielzeug herum, das vor ihm auf dem Schreibtisch steht. «Nun, ehrlich gesagt wohnt er bei uns.»
«Ach ja?» Während Nelson noch überlegt, warum in aller Welt Spens das bisher nicht erwähnt hat, fragt er: «Ist er zu Hause?»
«Ich denke schon, ja.»
«Kann ich mit ihm reden?»
«Natürlich.» Doch Spens bleibt am Schreibtisch sitzen. Schließlich sagt er: «Mein Vater leidet an einem frühen Stadium seniler Demenz. Manchmal wirkt er völlig klar, glasklar sogar, aber es kommt leicht vor, dass ihn etwas verwirrt. Und wenn er verwirrt ist, wird er … unruhig.»
«Verstehe», sagt Nelson, obwohl er im Grunde kein Wort versteht. Er ist noch nie einem dementen Menschen begegnet und kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ist, mit jemandem zusammenzuleben, der langsam, aber sicher seine geistigen Fähigkeiten einbüßt. Plötzlich sieht er Edward und Marion in einem ganz anderen Licht. «Das ist sicher nicht einfach», sagt er.
«Nein», bestätigt Spens. «Am schlimmsten ist es wohl für Marion, weil sie viel mehr zu Hause ist. Mit meinem Vater und den Kindern, das ist manchmal … immerhin haben wir ein Au-Pair-Mädchen, eine junge Kroatin, ein echter Glücksgriff. Und Vater kann sich noch ganz gut beschäftigen, er ist in der Seniorengruppe der Konservativen und im Geschichtsverein, spielt immer noch Boccia. Und er ist ein echter Computernarr, kennt sich besser mit den neuesten Technologien aus als ich. Noch ist er also kein Pflegefall.»
Das «noch» hängt unheilvoll im Raum, denn eines weiß auch Nelson über senile Demenz und Alzheimer: Eine Besserung ist ausgeschlossen.
«Ich hole ihn», sagt Edward. Dann fügt er mit leichtem Lächeln hinzu: «Wahrscheinlich freut er sich sogar. Er redet gern über die alten Zeiten.»
Genau so ist es auch, wobei Edward Spens sich allerdings den Hinweis gespart hat, dass zu den «alten Zeiten» auch das alte Rom, die Gegenreformation und der Krimkrieg gehören. Als Nelson schließlich auch einmal zu Wort kommt, fragt er: «Sir Roderick, erinnern Sie sich noch an Ihre Zeit in der Woolmarket Street?»
«Ob ich mich daran erinnere?» Roderick Spens bedenkt ihn mit einem scharfen Blick unter buschigen weißen Brauen hervor. «Natürlich erinnere ich mich. Ich erinnere mich an alles, nicht wahr, Edward?» Edward nickt zustimmend.
«Wie alt waren Sie denn damals?»
«Ich bin 1938 geboren und habe in dem Haus gewohnt, bis ich nach Cambridge gegangen bin, mit achtzehn.»
Dann ist er jetzt also siebzig, rechnet Nelson aus. Kein Alter heutzutage. Seine Mutter hat kürzlich mit ihren dreiundsiebzig Jahren noch angefangen, Line-Dancing zu lernen. Roderick Spens sieht mindestens zehn Jahre älter aus.
«Sie haben mit Ihren Eltern dort gewohnt?»
«Ja, mein Vater war Direktor an der St. -Saviours-Schule an der Waterloo Road. Er hat dort auch Latein und Griechisch unterrichtet.»
«Existiert die Schule noch?»
«Nein, sie wurde bereits in den sechziger Jahren geschlossen. Ein
Weitere Kostenlose Bücher