Knochenhaus (German Edition)
«Martin», sagt er, die Stimme vor Rührung halb erstickt. «Ich hätte nie geglaubt, dich einmal wiederzusehen. Mein lieber Junge.»
Max streckt die Hand aus und fasst den Priester am Arm. Auch ihm stehen Tränen in den Augen.
«Pater Hennessey», sagt er. «Ich habe Sie niemals vergessen.»
«Und Elizabeth?» Die Frage ist kaum mehr als ein Flüstern.
«Sie ist tot.» Max wendet das Gesicht ab.
Nelsons Stimme ist wie ein kalter Lufthauch. «Ich glaube, Sie sind uns ein paar Erklärungen schuldig, Mr. Grey. Oder soll ich vielleicht Mr. Black sagen?»
«Ich habe nichts Böses getan», sagt Max trotzig.
«Das zu beurteilen, überlassen Sie mal lieber mir», sagt Nelson. «Wenn Sie mir jetzt freundlicherweise aufs Revier folgen würden?»
Max scheint drauf und dran, sich zu weigern, doch dann zuckt er nur leicht die Achseln und folgt Nelson durch den Torbogen nach draußen. Kein Wunder, denkt Ruth, dass er gleich wusste, was die Inschrift bedeutet.
Pater Hennessey zögert kurz, dann wirft er Ruth einen entschuldigenden Blick zu und eilt hinter den beiden anderen Männern her. Ruth bleibt allein zwischen den Baggern zurück.
Es ist später Nachmittag, und Ruth ist wieder zu Hause. In den ersten paar Stunden nach der Enthüllung am Baugrundstück hat sie jeden Augenblick damit gerechnet, dass entweder Max oder Nelson anruft. Irgendwer muss ihr schließlich erzählen, wie es weitergegangen ist. Doch die Zeit ist verstrichen, Ruth hat Flint gefüttert und sich selbst ein leichtes Mittagessen zubereitet (mit umso kalorienreicherem Nachtisch), das Wohnzimmer aufgeräumt, die Waschmaschine angestellt, Mails beantwortet und sich schließlich mit einer Abschlussarbeit zum Thema «Die Archäologie der Krankheit» hingesetzt. Nun muss sie der Tatsache ins Auge blicken, dass es anscheinend niemand für nötig hält, sie auf den neuesten Stand zu bringen. Sie ist in diesem Fall eben nur eine Randfigur, die Knochenexpertin, die leicht exzentrische Akademikerin. Die Haupthandlung findet ohne sie statt. Max hat sie belogen und sie womöglich nur dazu benutzt, an Informationen über das Grundstück an der Woolmarket Street zu kommen. Und Nelson vergisst sie, sobald er einen möglichen Durchbruch wittert. Der Einzige, der sie in der Sache für zentral hält, denkt sie verbittert, ist dieser Spinner, der ihr ständig Ausstellungsstücke aus dem Museum in den Weg legt.
Doch schließlich, als sich die Vögel bereits zu ihrem allabendlichen Spektakel über dem Salzmoor sammeln – Tausende kleiner schwarzer Punkte, die wie magnetisierte Eisenspäne am Himmel zusammenströmen und wieder auseinanderdriften –, sieht Ruth einen schwarzen Range Rover vor ihrem Gartentor halten. Max.
Sie öffnet ihm die Tür, ohne selbst recht zu wissen, was sie empfindet. Einerseits will sie einfach nur wissen, was zum Teufel eigentlich los ist, andererseits begegnet sie Max Grey mit entschieden gemischten Gefühlen. Ganz zu schweigen von Martin Black, über den sie nicht das Geringste weiß.
Er sieht schrecklich erschöpft aus, kreidebleich, mit dunklen Ringen unter den Augen. Fünf Stunden lang von Nelson verhört zu werden ist sicher keine reine Freude, doch Ruth wird plötzlich klar, dass Max schon seit einiger Zeit recht mitgenommen wirkt, spätestens seit er von der Leiche unter der Türschwelle gehört hat. Oder nein, schon vorher: von dem Moment an, als ihm klarwurde, dass Ruths Baugrundstück sein altes Kinderheim ist, dem Moment, als sie ihn nach der Inschrift auf dem Torbogen gefragt hat. Ruth kann nichts dagegen tun: Sie hat Mitleid mit ihm.
«Wie geht’s dir?», fragt sie.
«Es ging mir schon mal besser.»
«Möchtest du einen Tee?»
«Lieber etwas Richtiges zu trinken.»
Sie schenkt ihm ein Glas Wein ein und macht sich einen Kräutertee, der so scheußlich schmeckt, dass er mit Sicherheit gesund sein muss.
Einen Augenblick lang sitzen sie schweigend da, dann sagt Max: «Es tut mir leid.»
«Was denn?»
«Dass ich dich angelogen habe.»
«Du hast mich ja nicht direkt angelogen, du hast mir nur einfach nichts davon erzählt.»
Er lächelt. «Pater Hennessey würde jetzt sagen, dass das auf dasselbe hinausläuft.»
«Unglaublich, dass er dich nach all den Jahren erkannt hat.»
«Er meinte, es hätte größtenteils an der Umgebung gelegen, weil er mich da unter dem Torbogen stehen sah. Mein Gott – als du mich gefragt hast, was diese Inschrift bedeutet! Die ist mir für immer ins Herz gebrannt.»
Er trinkt hastig
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