Knochenhaus (German Edition)
über Nacht. Ich sage Tanya, dass sie heute bei Ruth bleiben soll.»
Etwas Routinearbeit, denkt er, wird Tanya nicht schaden. Sie wird ihm in letzter Zeit ein bisschen zu selbstgefällig. Er kann nur hoffen, dass sie nicht auf Judys Stelle schielt. Tanya mag intelligent sein, aber sie muss noch eine ganze Menge lernen. Abgesehen davon würde er nie einen Neuzugang an einer altgedienten Mitarbeiterin vorbei befördern. Nelson glaubt an klare Rangfolgen; so ist das eben, wenn man das jüngste von drei Kindern ist.
Er wühlt weiter in Judys unfassbar ordentlichen Unterlagen und entdeckt dabei das Blatt, auf dem sie den Stammbaum der Familie Spens skizziert hat:
Nelson starrt auf die hingekritzelten Namen und hat dabei das sichere Gefühl, etwas zu übersehen. Versunken, wie er ist, hört er nicht, dass ihn jemand beim Namen ruft. Erst als Cathbad bereits im Zimmer steht, nimmt er ihn samt lila Umhang und allem Drum und Dran zur Kenntnis. Hinter ihm in der Tür steht Tom vom Empfang, mit peinlich berührter Miene.
Seit der Sache auf dem Salzmoor sind Nelson und Cathbad so etwas wie Freunde geworden. Trotz Nelsons Abneigung gegen alles Esoterische und Cathbads Aversion gegen Autoritäten verstehen sie sich gut. Cathbad hat Nelson sogar schon zu Hause besucht und den Mädchen Traumfänger mitgebracht, und Nelson hat ihn hin und wieder auf ein Glas in einer dieser zwielichtigen Spelunken getroffen, wo alle Biersorten komische Namen haben und die Leute einen mit Folk beschallen, wenn man nicht aufpasst.
«Tut mir leid, Sir», sagt Tom. «Er meinte, es wäre wichtig.»
Jetzt bemerkt auch Nelson, dass Cathbad trotz Hexenmeisterumhang ungewohnt ernst, fast schon besorgt dreinschaut.
«Worum geht’s denn?», fragt er.
«Um Max Grey», gibt Cathbad zur Antwort.
Judy kommt um kurz nach vier in Southport an, wo man ihr mitteilt, Schwester Immaculata sei «unpässlich» und könne keinen Besuch empfangen.
«Es ist aber wichtig», bettelt Judy, umgeben von tropischen Pflanzen und Heiligenporträts, die die makellos saubere Eingangshalle zieren.
«Davon bin ich überzeugt», sagt die Oberschwester verständnisvoll. «Aber Schwester Immaculata hat heute einen schlechten Tag. Vielleicht geht es ihr morgen ja wieder besser.»
Und so findet sich Judy, nachdem sie versichert hat, am nächsten Tag ganz bestimmt wiederzukommen, auf der Strandpromenade von Southport wieder, müde, hungrig, mutlos und ein wenig verängstigt. Was, wenn Nelson stinksauer auf sie ist, weil sie sich einfach so abgesetzt hat? Was, wenn Ruth in der Nacht ermordet wird – ist das dann nicht ihre Schuld? Was, wenn Tanya die zahnärztlichen Unterlagen findet, den Fall löst und befördert wird? Seufzend macht sie sich auf den Weg zur nächstbesten Pension.
Ruth ist nicht gerade erfreut, als sie die Haustür öffnet und Tanya Fuller vorfindet, wo sie doch Judy erwartet hat. Sie mag Judy und hat sich darauf gefreut, sie wiederzusehen. Die morgendliche Unterhaltung mit Pater Hennessey hat sie mehr verstört als beruhigt. Was hat er bloß damit gemeint, dass das Böse das Haus schon lange beherrscht hat, bevor er davon wusste? «Sie wollen mir aber jetzt nicht erzählen, dass es dort spukt?», hat Ruth amüsiert erwidert.
«Vielleicht», antwortete der Priester.
«Aber Priester glauben doch bestimmt nicht an Gespenster.»
«O doch.» Hennessey lächelte sie an. «Denken Sie nur an den Heiligen Geist. Für mich persönlich der wichtigste Teil der Dreifaltigkeit.»
Aus Ruths Perspektive ist das natürlich blanker Unsinn, doch als sie durch den Nebel zum Salzmoor zurückfuhr, musste sie ständig den unsinnigen Drang unterdrücken, in den Rückspiegel zu schauen und sich zu überzeugen, dass niemand auf der Rückbank sitzt. Selbst jetzt, während sie für sich und Tanya Abendessen kocht, muss sie das Radio einschalten, um nicht die ganze Zeit auf fremde Atemzüge vor dem Fenster zu lauschen.
Obwohl sie eine Schwäche für Kochbücher hat (vor allem wenn toskanische Olivenhaine darin abgebildet sind), kocht Ruth nur selten, und für Tanya tut sie es äußerst ungern. Mit Judy war das anders, doch jetzt fühlt sie sich unwohl und leicht gestresst dabei, für diese Wildfremde, die da auf dem Sofa sitzt und sich Katzenhaare von der schwarzen Hose klaubt, ein Abendessen zuzubereiten. Trotzdem kocht Ruth Pasta mit selbstgemachter Sauce und macht einen Salat dazu. Beim Essen unterhalten sie sich lustlos. Ruth erfährt, dass Tanya fünfundzwanzig ist und seit
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