Knochenhaus (German Edition)
vier Jahren bei der Polizei arbeitet, dass sie studiert hat (Sportwissenschaft) und es als moralische Verpflichtung betrachtet, sich körperlich fit zu halten. Ruth hört sich das alles schweigend an und nimmt sich noch ein weiteres Stück Knoblauchbrot. Tanya findet Norfolk «ganz reizend» und ihre Kollegen ebenfalls. Selbst Nelson wird mit dieser Bezeichnung belegt.
«Finden Sie nicht, dass er ein ganz schöner Sklaventreiber ist?»
«Nein. Zu mir war er immer ganz reizend.»
Zu mir war er auch ganz reizend, denkt Ruth, und wohin das geführt hat, sieht man ja. Sie schaut aus dem Fenster und denkt an Nelson, an jene Nacht vor vier Monaten, als er so unerwartet vor ihrer Tür stand. Über dem Moor geht die Sonne unter, die Vögel erheben sich in die Luft wie schwarze, bewegliche Wolken am dunkelblauen Himmel.
«Ein schöner Blick», bemerkt Tanya höflich.
«Ja, nicht wahr?», erwidert Ruth. Sie denkt an das Salzmoor und seine Geheimnisse: den verborgenen Dammweg, den Henge, die Toten, die dort begraben sind, wo das Land ans Meer grenzt. Vergangenes Jahr wäre sie einmal fast im Moor umgekommen. Sie hat geglaubt, die Gefahr wäre gebannt und sie könnte ein Weilchen in Frieden leben. Doch wie es aussieht, lauert ihr nun eine neue Bedrohung auf.
Tanya verzehrt eine winzige Portion Pasta und legt nach jedem Bissen eine Pause ein. Als sie mit ihrem ersten Teller fertig ist, hat Ruth bereits ihre zweite Portion gegessen. Sie trinken Wasser – «Ich bin ja im Dienst» –, und Tanya reagiert auf den angebotenen Nachtisch, als wollte Ruth ihr harte Drogen verkaufen. Ruth schneidet sich ein Stück Schokoladenkuchen ab und fragt sich, worüber sie bloß den ganzen Abend mit dieser Frau reden soll. Vielleicht können sie ja einfach ein bisschen fernsehen.
Sie setzt gerade dazu an, diesen Vorschlag zu machen, als plötzlich, ohne Vorwarnung, die Lichter ausgehen. Tanya springt auf, sofort in Alarmbereitschaft.
«Schon gut», sagt Ruth. «Das ist nur die Sicherung. So was kommt hin und wieder vor. Der Kasten ist hinten im Garten.»
Der Sicherungskasten befindet sich in dem kleinen Schuppen im Garten. Die Wochenendfahrer nebenan haben ihren Schuppen als zweites Badezimmer ausgebaut, doch bei Ruth beherbergt er nur rostiges Gartengerät, einen ausgemusterten Hometrainer und die traurigen Überreste einer Wäschespinne.
«Ich gehe nachsehen», sagt Tanya.
«Seien Sie nicht albern. Es ist gleich neben der Hintertür. Außerdem finden Sie den Kasten nie. Der Gartenschuppen hat kein Licht.»
Ruth schlüpft in ihre Schuhe und öffnet die Küchentür. Draußen ist es stockdunkel, vom Meer weht ein frischer, salziger Wind heran. Sie tritt in den Garten hinaus und tastet mit einer Hand nach der Schuppenwand, spürt die Feuersteinmauer, die verwitterte Holztür, streckt die Hand nach der Klinke aus.
Und fasst an menschliche Haut.
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27
Ruth schreit laut auf. Sie nimmt noch einen Duft wahr, Zitrone und Sandelholz, dann wird es schwarz um sie. Sie ringt nach Luft, sieht nichts und weiß auch sonst nicht mehr, wie ihr geschieht. Sie stolpert, fällt zu Boden, schlägt sich das Knie an einem Stein auf.
«Ruth!» Das ist Tanyas Stimme, dumpf, aber ganz nah.
Etwas wird ihr vom Kopf gezogen, und plötzlich kann sie wieder sehen. Der nächtliche Himmel wirkt ungewöhnlich hell nach der völligen Dunkelheit. Ruth kniet auf dem Boden vor dem Schuppen, Tanya steht neben ihr und hält ein schweres schwarzes Stück Stoff in der Hand.
«Was ist denn passiert?» Tanya wirkt zutiefst erschüttert – schwer zu sagen, ob aus Sorge um Ruth oder doch eher aus Angst davor, was Nelson sagen wird, wenn Ruth etwas zustößt.
«Ich bin nach draußen gekommen, habe nach der Schuppenwand getastet, und dann war da … ein Mensch. Da stand jemand, direkt an der Wand. Ich habe ihn berührt. Das Gesicht, glaube ich. Und ich habe ihn atmen hören. Dann war plötzlich alles schwarz.»
«Er hat Ihnen das hier über den Kopf geworfen.» Tanya hält das schwarze Tuch hoch. «Unten ist es mit Gewichten verstärkt.»
«Deshalb konnte ich es auch nicht abschütteln.» Ruth rappelt sich mühsam hoch. Jetzt, da die Angst nachlässt, kommt sie sich reichlich albern vor. Es hat etwas unwahrscheinlich Demütigendes, einfach so ein Tuch übergestülpt zu bekommen, wie ein Wellensittich im Käfig.
Tanya stößt die Schuppentür auf. «Ist da jemand?», ruft sie mit bewundernswert fester Stimme. Niemand antwortet, doch dann
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