Knochenkälte
beschlagen. Ich strecke die Hand aus, um ein Stück freizuwischen, und sehe die Spuren, wo Dad das auch schon gemacht hat.
Plötzlich stürzen die Erinnerungen mit einer solchen Macht auf mich ein, dass meine Hand auf halbem Wege erstarrt.
Mom hat das früher immer getan. Sie war immer als Erste auf, als Erste unter der Dusche. Wenn ich später dann auch duschen ging, fand ich hinterher manchmal eins ihrer Kritzelbilder auf dem Spiegel. Ich dusche gern heiß, deswegen wusste Mom, dass ich die unsichtbaren Fingerzeichnungen finden würde, die sie für mich auf dem Spiegel hinterließ.
Sie zeichnete Strichmännchen mit dicken Lolli-Köpfen. Kindisches Zeug, aber es war unser kindisches Zeug. Eins der Strichmännchen hatten wir Stinkboy getauft. Stinkboy war mein Alter Ego. Er war derjenige, der den Teppich dreckig machte, seine schmutzige Wäsche überall rumliegen ließ und schuld an dem Gestank war, der den Turnschuhen entstieg. Mom zeichnete das böse Strichmännchen immer mit spitzen Haifischzähnen, kleinen Knopfaugen und geringelten Linien drumrum,
für den Gestank, den er verbreitete. Manchmal malte ich ein zweites Männchen dazu, das mit winzigen Kugeln auf Stinkboy schoss oder ihn erdolchte.
Kindisches Spielchen. Unser Spielchen.
Ich kann mich noch gut erinnern. An dem Morgen, an dem man Mom zum ersten Mal anmerkte, dass etwas nicht stimmte, hatte ich einen nuklearen Angriff auf Stinkboy gezeichnet, mit lauter kleinen Atompilzen um ihn herum.
»Das war’s dann wohl mit Stinkboy«, sagte Mom, als sie in die Küche kam. »So was überlebt keiner.«
Ich hatte über meinem Müsli vor mich hingedöst, aber beim Klang ihrer Stimme wachte ich auf. »Ach was«, sagte ich. »Der ist doch schon erschossen, erstochen, verbrannt, ausgebombt und enthauptet worden. Und er kommt trotzdem immer wieder zurück. Der ist unsterblich.«
Mom war wie immer im Stress, aß ihren Toast und trank ihren Kaffee, während sie gleichzeitig die Nachrichten auf ihrem Handy checkte. Sie war Immobilienmaklerin und immer unterwegs, um irgendwelchen Leuten irgendwelche Objekte zu zeigen. Hatte immer tausend Sachen gleichzeitig im Kopf.
Am Anfang war es also eher komisch. Ein verbaler Ausrutscher. Sie hatte gerade ihren zweiten schwarzen Kaffee runtergestürzt und stellte die Tasse in die Spüle.
»Schmeißt du mir mal die Elefanten her?«, sagte sie.
»Hä?« Ich schaute von meiner Müslischüssel hoch.
»Elefanten«, sagte sie. »Elefanten.«
Ich starrte sie nur stirnrunzelnd an. Sie zeigte auf etwas, das neben meinem Ellbogen auf dem Tisch lag. Ihr Schlüsselbund.
»Meinst du die hier?«, fragte ich. »Deine Schlüssel?«
»Ja, wirf sie bitte mal her.«
Das tat ich, und sie fing sie auf, ohne mit dem SMS-Schreiben aufzuhören. Mom war extrem multitaskingfähig.
»Du hast Elefanten gesagt.«
»Was meinst du, Schätzchen?«
»Du hast gerade Schmeiß mal die Elefanten her gesagt.«
Sie sah von ihrem Handy auf und zog eine Augenbraue in die Höhe. »Ich kann dir nicht folgen. Was soll das heißen?«
»Hey, das frage ich dich . Du hast Elefanten gesagt.«
Sie sah mich an, als wäre ich völlig verrückt geworden. »Du hast wohl an den Pilzwolken geschnüffelt, die für Stinkboy gedacht waren.«
Wir taten es beide als Versprecher ab. Bis sie es wieder tat, hatten wir es beide fast schon vergessen.
Noch mehr Versprecher, noch mehr falsche Wörter. Am Anfang war es lustig. Als die Migräneanfälle einsetzten, nicht mehr.
Sie unterzog sich etlichen Untersuchungen. MRT, Ultraschall, EEG.
Aphasie nannten es die Ärzte. Das Verwenden falscher Wörter, das Vergessen von Dingen. Das war das erste Symptom, aber schon bald kamen Kopfschmerzen, Übelkeit, Ungeschicklichkeit und Desorientiertheit hinzu.
Schließlich entdeckten sie es in ihrer linken Gehirnhälfte. In dem Teil, der die Spracherkennung steuert, das Gleichgewicht, das Gedächtnis. Mom sagte, auf dem MRT-Bild habe der Tumor wie ein Krake ausgesehen, mit Tentakeln, die nach allen Seiten griffen und sich festkrallten. Die Gewebeprobe ergab,
dass er bösartig war. Seine Lage, direkt ans Stammhirn gepresst, war noch bösartiger.
Und dann ging der Albtraum so richtig los.
All das blitzt in meinem Kopf auf, als ich jetzt vor dem Spiegel stehe.
Ich wische die Scheibe mit dem Handtuch ab und starre mein Spiegelbild an. Meine Augen tränen, mein Herz fühlt sich in meinem Brustkorb an wie eine geballte Faust. Panik steigt in mir hoch.
Nein! Nicht jetzt. Nicht jetzt.
Ich
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